ASYS Erfahrungsbericht STEP

STEP – “Systemic social work Throughout EuroPe”

Erfahrungsbericht von Walter Milowiz, Sept. 2014

Im Oktober 2010 trafen sich in Wien beim Verein ASYS – Arbeitskreis für systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision zehn Personen aus verschiedenen Ländern Europas, um ein gemeinsames Projekt zu planen: Herauszufinden und zu vergleichen, wie „systemische Sozialarbeit“ in Europa verstanden und angewendet wird. Ziel des Projektes war es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verständnis und in den Anwendungen zu besprechen und darüber zu schreiben.

Foto: Walter Milowiz

STEP wurde im Februar 2011 zur Förderung bei der österreichischen Nationalagentur für Lebenslanges Lernen, Programmbereich Leonardo da Vinci – Partnerschaftsprojekte eingereicht und genehmigt. Solche Projekte bestehen aus Partnerschaftsinstitutionen aus mindestens drei Ländern der EU; jede Partnerschaftseinrichtung muss das im Heimatland des Koordinators – in diesem Fall Österreich, Koordinator war der Verein ASYS – evaluierte Projekt bei der eigenen Nationalagentur einreichen; jede Einrichtung muss dementsprechend auch national genehmigt werden, um teilnehmen zu können. STEP wurde in allen Ländern, in denen es eingereicht wurde, auch angenommen, und so konnte das Projekt dann ab 1. August 2011 mit folgenden Partnern an den Start gehen:

  • ASYS – Arbeitskreis für Systemische Sozialarbeit, Beratung und Supervision
  • Fachhochschule Campus Wien
  • The Robert Gordon University, Aberdeen
  • Hochschule Merseburg
  • University of Helsinki
  • London Borough of Hackney
  • Hochschule Luzern – Soziale Arbeit
  • Eine Gastdozentin der Hochschule Merseburg aus den Vereinigten Staaten ermöglichte eine internationale Perspektive noch über Europa hinaus.

Für die dreijährige Laufzeit hatte sich STEP ein ambitioniertes Programm gegeben:

  • Gemeinsame Prinzipien und Grundlagen systemischer Sozialarbeit identifizieren;
  • Eine Website einrichten mit Materialien zum Thema und zum Projekt, die laufend aktualisiert wird;
  • Ein Handbuch verfassen mit theoretischen Grundlagen, Übungen für entsprechende Denk- und Vorgehensweisen, Beispielen von „good practice“ und weiterführender Literatur
  • Erfahrungsaustausch in Lehre und Praxis.

Eine grundsätzliche Herausforderung bei einer Kooperationsform, die bei begrenzter Zeit für Kontaktphasen und ohne formelle Leitung eine gemeinsame Verpflichtung auf vorzeigbare Produkte eingegangen ist, liegt in der Prozessdynamik. D.h. es muss gelingen, Kooperation und Konkurrenz in eine arbeitsfähige gemeinsame Struktur zu überführen.
Im Falle von STEP gelangt dies, indem die Struktur der Treffen beim ersten Meeting in London von den Kolleg*innen des London Borough of Hackney in einer Weise vorgegeben wurde, die gut von den anderen Partnern übernommen werden konnte. Diese Struktur erwies sich als tragfähig und bestimmte so den Takt der Partnerschaft. Der Ablauf gestaltete sich folgendermassen: Die mehrtägigen Besuche begannen jeweils am ersten Tag mit Einblicken in soziale Einrichtungen, die systemisch arbeiten. Diese Besuche wurden in einem „erweiterten Projektteam“ durchgeführt, d.h. die Projektverantwortlichen sowie Kollegen und Studierende der einzelnen Einrichtungen nahmen daran teil. Die öffentlichen Tagungen danach erreichten auch viele interessierte PraktikerInnen, StudentInnen und Lehrkräfte und ermöglichten so Meinungsaustausch über die Projektteilnehmenden hinaus. Der letzte Tag war jeweils einem internen Projekttreffen gewidmet; in ihm wurden bisherige Aktivitäten evaluiert, weitere Vorgangsweisen besprochen und v.a. das Konzept des Handbuchs entwickelt.

Die Arbeitssprache war Englisch. Mit der Zeit gewöhnten die Deutschsprechenden sich daran, auch mit den deutschsprachigen Kolleg*innen englisch zu sprechen, damit auch die finnische Kollegin verstehen kann, wovon die Rede ist. Die englischsprachigen Kolleg*innen gewöhnten sich daran, ihre Muutersprache langsamer und schlichter zu benützen. Der oftmals unsichere Umgang mit Sprache half, Begriffe bewusster in Frage zu stellen, bzw. das Verstehen der Anderen als weniger selbstverständlich zu nehmen. Es half uns zu beachten, wie eine Botschaft bei anderen ankommt, und war so auch eine Übung in systemischer Haltung.
Besuche bei systemisch geführten Einrichtungen fanden demgemäß in jeder der genannten Städte statt. Einige von den vielen besuchten systemischen Projekte in verschiedenen Ländern sollen einen Einblick in die Kreativität und Vielfalt systemischer Praxis vermitteln:

Borough of Hackney, London, Grossbritannien
Die Londoner Projektteilnehmenden kamen aus dem Bezirk Hackney und sind PraktikerInnen der dortigen Jugendwohlfahrt. Dieser Bezirk mit ungefähr 300.000 Einwohnern ist geprägt durch einen Migrant*innenanteil von mehr als der Hälfte der Bevölkerung, auch soziale Unruhen und Gewalt in den Straßen sind Teil der Geschichte der letzten Jahre. Dort wurde die Jugendwohlfahrt vor ca. sechs Jahren gänzlich neu organisiert und ausdrücklich als „systemische Sozialarbeit“ konzipiert. Was verstehen „die Hackneys“ darunter? Auf die komplexen Problemsituationen von Kindern und Familien sollte anders als bisher (mit einzeln tätigen Sozialarbeiter*innen) reagiert werden. Auf die unterschliedlichen kulturellen und sozialen Herkunftsgeschichten von Familien aus Ländern wie Nigeria, Jamaica, Sri Lanka, Indien, u.a. sollte anders eingegangen werden können. Man beschloss, in „Units“ zu arbeiten. Zwei Sozialarbeiter*innen, ein Child Practitioner, eine Familientherapeut*in und eine Sekretariatskraft bilden nun das Team, das gemeinsam auf Gefährdungsmeldungen reagiert, und in deren Händen die Bearbeitung liegt. Durch wöchentliche Abklärung des Fallprozesses im Team, durch Erkundung der vorhandenen Ressourcen der oft komplizierten Familienstrukturen, durch gegenseitigen Austausch über die bestmögliche Art der Kommunikation mit den Betroffenen, und vieles andere mehr, wird ein Arbeitsklima geschaffen, das den Klient*innen wie auch den in der Child Welfare Tätigen gut tut. Eine Evaluierung aus letzter Zeit hat erwiesen, dass um die Hälfte weniger Fremdunterbringungen nötig wurden und sich so diese Arbeitsweise auch wirtschaftlich günstiger zeigt, obwohl die aufwändige Teamarbeit im ersten Moment teurer erscheint.
Wichtige Prinzipien in Hackney sind:

  • Sich der Kommunikation untereinander und mit KlientInnen aus systemischer Sicht bewusst zu sein;
  • Achtsam auf Sprache und Bedeutung des Verhaltens zu sein;
  • Wechselwirkungen zu bedenken und die Sichtweisen der Individuen, die aus ihrer jeweiligen Kultur geprägt sind, zu beachten.

Alle Mitarbeiter*innen wurden und werden in systemischen Theorien und Methoden geschult.

Kintore Family Resource Centre, Schottland, Grossbritannien
Wir wurden im Kintore Family Resource Centre erwartet, einer Einrichtung für Kinder, Jugendliche und Familien, die direkt in ein Schulhaus integriert ist. Dieser Platz repräsentiert die Philosophie, die in der Zusammenarbeit mit Familien vorherrscht: leichte Erreichbarkeit, Niederschwelligkeit (man sieht den Familien nicht auf Anhieb an, wohin sie gehen), einladende Räume, Ausrichtung auf eine Wahrnehmung der Eltern als partnerschaftliches Gegenüber, als interessierte, kompetente und für die Hilfe an den Kindern unentbehrliche Personen.
Ein Blick auf den Belegungsplan der Räume für eine Woche zeigt, wie vielfältig und unterschiedlich die Räume genutzt werden: Da gibt es Spieltherapie und Treffen von Elterngruppen, da gibt es auch Sitzungen mit Familien und unterschiedlichen involvierten Institutionen bis zu Sitzungen, zu denen die Polizei Sozialarbeiter*innen des Kindesschutzes beiziehen (insbesondere für die Befragung von Kindern und Jugendlichen ist das fast schon Standard). Hinter dieser Organisation von Hilfe steckt ein umfassendes, aus meiner Sicht kühnes Projekt für die Vernetzung aller Bemühungen um ein gutes Gedeihen von Kindern und Jugendlichen in Schottland: das Modell – „Getting it right for every child“ – „Für jedes Kind das Richtige“. Ab 2004 entwickelt, wurde es 2009 vom schottischen Parlament beschlossen und ist jetzt in der Implementierungsphase. Im Leitfaden zu dieser Phase wird „Getting it right for every child“ als „goldener Faden“ bezeichnet, der alle Zielsetzungen und Bemühungen für Kinder und Jugendliche in Schottland miteinander verknüpft.

Open Dialogue, West-Lappland, Finnland
Man stelle sich vor, dass ein Mensch in einer Krise, in der er normalerweise in eine stationäre psychiatrische Behandlung käme, stattdessen innerhalb kürzester Zeit von einem Team vor Ort aufgesucht wird. Dieses Team lädt alle, die an einer Besserung der Situation für die Betroffenen interessiert sind, zum Gespräch ein und bleibt auch solange vor Ort, wie es die Situation braucht (auch mehrere Tage). In den ersten drei Tagen werden keine Psychopharmaka verabreicht. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Beruhigung der Situation. Der/die Betroffene soll eine ruhige Zeit haben, in Ruhe zum Schlafen und Essen kommen, im sogenannten „Open Dialogue“ werden Zielvorstellungen aller Beteiligten einander gegenübergestellt und miteinander in Beziehung gesetzt, hilfreiche Möglichkeiten in der Umgebung gesucht. In diesem sehr radikalen systemischen Ansatz wird das Prinzip gelebt, dass jedes Verhalten eines Menschen Sinn hat. Daraus ergibt sich, dass man gefordert ist, sehr behutsam den Betroffenen zuzuhören und sich in einem zweiten Schritt zu fragen, was alle beitragen könnten. Diese Form des „Offenen Dialogs“ gibt es in West-Lappland in Finnland und wird von Dr. Jaakko Seikkula und dessen Mitarbeiter*innen konsequent durchgeführt.

FIKTIVE, Helsinki, Finnland
Von einer besondere Art, durch Fragen und Zuhören positive Wirkung für Beteiligte zu schaffen berichtete Katarina Fagerström (eine unserer Projektteilnehmerinnen): In der Arbeit mit drogenmissbrauchenden Jugendlichen wurde man gewahr, dass es auch wichtig sein könnte, mit den Eltern in Kontakt zu treten, und zwar in der Form, dass diese eingeladen wurden Geschichten über Menschen zu lesen, die soziale Probleme hatten. Über das Lesen und über die Gedanken zu diesen Geschichten wurde dann mit ihnen gesprochen. Die Eltern konnten sich indirekt durch Geschichten anderer mit der eigenen Geschichte und der ihrer Kinder auseinandersetzen. Die Prinzipien der Zirkularität und der Wechselwirkung von Zusammenhängen werden in dieser Arbeit sehr deutlich.

Kinder- und Jugendpsychiatrisches Krankenhaus, Halle, Deutschland
Wenn Kinder oder Jugendliche psychiatrisch auffällig werden, liegt der Fokus in dieser Einrichtung zunächst weniger auf der Frage von stationärer Unterbringung und sofortiger Medikation, sondern zunächst wird versucht, eine Gesamtschau des Umfeldes zu erhalten und, wenn irgend möglich, die Eltern einzubeziehen. Der Behandlungsplan wird auch weiterhin in Zusammenschau und gemeinsamer Besprechung aller Sichtweisen und Möglichkeiten für den weiteren Verlauf abgestimmt, und v.a. nach Möglichkeiten einer begleitenden Betreuung von verhaltensauffälligen Kindern gesucht.

Praktiker*innen-Panel, Wien, Österreich
Besucht wurde ein von einem sozialökonomischen Projekt geführtes Restaurant und eine Einrichtung, die Jugendlichen, die in der Regelausbildung Schwierigkeiten hatten, Schulabschlüsse ermöglicht.
Für das dritte Praxistreffen wurde hier eine andere Form gewählt: PraktikerInnen aus unterschiedlichen Feldern der Sozialarbeit (Jugend-, bzw. Mädchenarbeit, Wohnungslosenhilfe, sozialökonomisches Projekt), die alle einen Aufbaulehrgang in systemischer Sozialarbeit beim Verein ASYS absolviert hatten und dementsprechend ihre Arbeit als systemisch verstehen, berichteten von ihren Tätigkeiten , wo und wie sie systemisch arbeiten und welche Wechselwirkungen sie be(ob)achten. Die nachfolgende Diskussion mit den STEP- Projektteilnehmer*innen fokussierte noch einmal die Schwierigkeit, auf Interaktions- und Kommunikationsmuster statt auf zu Einzelfallproblematiken zu achten – und darauf, um wie vieles einfacher und konstruktiver sozialarbeiterisches Handeln gestaltet werden kann, wenn das gelingt.

Schul- und Wohnzentrum (SWZ), Luzern, Schweiz
In der stationären Einrichtung für dzt. 26 verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche, in welcher sich auch eine Sonderschule für diese befindet, haben sich die LehrerInnen und Sozialpädagog*innen entschlossen, ihre Tätigkeiten gleichsam zu verschmelzen. Nicht mehr nur Schule vormittags und Sozialpädagogik nachmittags und abends, sondern Unterricht und Pädagogik finden aufeinander abgestimmt und von verschiedenen Beteiligten durchgeführt statt. So kann zum Beispiel auch berücksichtigt werden, dass ein Kind mehrere Monate nicht für einen Unterricht aufnahmefähig ist, aber doch von den LehrerInnen und Sozialpädagog*innen gemeinsam betreut wird und die Beziehung zu diesem Kind als wichtigstes Prinzip erachtet werden kann.
In derselben Gegend sind LehrerInnen als „Coaches“ in Regelschulen tätig. Sie beraten nicht nur die zuständigen LehrerInnen von verhaltensauffälligen Kindern, sondern treten sehr bewusst mit den Eltern in Kontakt. Als kleines Beispiel: Eine ehemals drogenabhängige Mutter eines 8 jährigen ADHS Kindes sah sich selbst als unfähig in der Erziehung des Sohnes, der Vater warf vor allem der Schule Unfähigkeit vor und die Schule bezweifelte die Kompetenz der Mutter. Die „coachende Lehrerin“ arbeitet mit der Marte-Meo-Methode: Sie filmte einige Stunden Mutter und Kind, während die Mutter dem Kind beim Aufgabenmachen half. Dann schnitt sie davon einige Minuten zu einer Sequenz, die zeigt, wie bemüht und geduldig die Mutter mit dem Sohn ist, und zeigte diese Minuten den Eltern. In der Folge gab es dann noch Filme mit Sohn, Vater und Mutter mit dem Ziel, sehr konsequent durch Blick auf vorhandene Fähigkeiten diese zu stärken. Durch das gemeinsame Betrachten und Besprechen dieser Filmsequenzen änderten sich die Beziehungsmuster zwischen Eltern, Kind und Schule.

Die Tagungen und insbesondere die Diskussionen in deren Rahmen zeigten, dass die Auseinandersetzung über systemische Sozialarbeit ziemlich schwierig ist, einerseits, weil schon im Vorfeld Sozialarbeit in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich eingesetzt und damit auch verstanden wird, andererseits, weil es häufig sehr schwierig war, theoretische Grundprinzipien, methodische Konzepte und Handlungsprinzipien als praktische Folgerungen klar auseinander zu halten.
Letztlich wurde aber eine Einigung dahingehend möglich, dass gemeinsame theoretischen Grundlagen gesehen wurden und die Unterschiede sich aus den verschiedenen, aus diesen abgeleiteten praktischen Ansätzen ergaben: Jede/r der Projektpartner*innen betont andere Schwerpunkte der theoretischen Grundlagen und baut auf diesen Handlungskonzepte auf, von der fundamentalistischen Analyse zirkulärer Prozesse über den lösungsorientierten Ansatz und die konstruktivistische Idee verschiedener Sichtweisen bis hin zum Augenmerk auf die Verknüpfung der Mikro-, Meso- und Makroebene in der Arbeit mit sozialen Problemsituationen.
Das Optimum wäre vielleicht, wenn in der Sozialarbeit alle diese Gedanken gleichzeitig beachtet würden, aber auch das ist ein systemisches Prinzip: Um etwas erfassen zu können, muss Komplexität nach der Erhöhung wieder reduziert werden.

Die Projektteilnehmer haben miteinander ein Handbuch über systemische Sozialarbeit in Europa geschrieben, das Sie hier als PDF herunterladen können.