Erzählungen und Erkenntnisse aus der systemischen Praxis
Wir haben für Sie Erzählungen aus der Praxis gesammelt, meist solche, in denen sich systemisches Vorgehen bewährt hat. Naturgemäß sind es in der Mehrzahl (obwohl nicht nur) Geschichten, wo es gut gegangen ist. Schiefgegangenes wird eben selten öffentlich berichtet, so auch hier.

Die Absolution der Flüchtigen
von Edith Ivancsits
Die Vorgeschichte
Frau M. (37) ist mit ihren Töchtern Istia (16) und Mura (12) drei Wochen nach dem tödlichen Verkehrsunfall ihres Lebensgefährten, Herrn R. ins Flüchtlingsheim der Caritas in Neudörfl gekommen. Die Familie stammt aus Bosnien und ist seit ca. fünf Jahren in Österreich. Frau M. und Istia, die Tochter aus erster Ehe, sind Christinnen, Mura ist nach ihrem Vater moslemisch. Die Religionszugehörigkeit spielt in Bosnien nach wie vor eine sehr große Rolle. Die Beziehung von Frau M. zu Herrn R. wurde von ihrer Familie nie gut geheißen. Auf der anderen Seite fand Frau M. aber auch nie richtig herzlichen Kontakt zu der Familie des Lebensgefährten.
Frau M. hat sich, kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter von ihrem damaligen Ehemann scheiden lassen, da dieser an schweren Depressionen litt, und Frau M. damit nicht klar kam (laut ihren Aussagen). Kurze Zeit nach ihrer Trennung, beging der Mann Selbstmord. Ca. drei Jahre später lernte sie Herrn R. kennen. Als die gemeinsame Tochter Mura knapp 4 Jahre war, verließ Herr R. seine Familie um als Gastarbeiter nach Österreich zu gehen. Während der Kriegswirren ließ Herr R. Frau M. und die beiden Mädchen nach Österreich nachkommen.
Es war ihm gelungen, sich hier zurechtzufinden. Er fand relativ schnell einen Arbeitsplatz, mietete ein kleines Häuschen und konnte sich auch im Fußballverein des Ortes integrieren. D.h. als Frau M. mit den Töchtern nach Österreich kam, fanden sie ein vorbereitetes, relativ sicheres soziales Netz vor. Nach ca. zwei Jahren mußte Frau M. stationär auf der Psychiatrie aufgenommen werden. Die Diagnose lautete auf „schwere Depression mit Gefahr der Selbstgefährdung“. Nach einigen Wochen im Krankenhaus wurde Frau M. nach Hause entlassen, sie schluckt aber seither täglich Antidepressiva.
Kurz nach diesem Vorfall, kam die Familie ins Flüchtlingsheim, da der finanzielle Boden unter den Füßen plötzlich verschwunden war. Nach dem Tod von Herrn R. meldeten sich etliche „Helfer‘, um Frau M. beizustehen (Verwandte, Lehrer, Pfarrgemeinde, Vereinsfreunde von Herrn R, Arbeitskollegen von Herrn R). Im Prinzip richteten diese Helfer das Begräbnis aus (mit Uberführung), sammelten Geld für die „armen“ Kinder und nahmen damit Frau M. ziemlich alles aus der Hand, wobei Frau M. teilweise keine Ahnung hatte, was veranlaßt wurde, wieviel die Uberführung gekostet hat, ob ihr Visum verlängert wird etc. Laut ihren Angaben hat man ihr geraten, sich nicht aufzuregen, man werde schon alles zu ihrer Zufriedenheit regeln.
Auch an die Caritas wandte sich Frau M. nicht selbst, eine Freundin brachte sie in das Heim, weil auch der Bruder des verstorbenen Herrn R, mit seiner Familie, in diesem Heim wohnt.
Der Umzug erfolgte im September 1997.
Da die Familie aus Bosnien stammt, bekamen Frau M. und ihre Tochter 1 bis Juli 1997 ein Visum nach § 12. Frau M. hatte ein Familienvisum. Kurz vor seinem Tod brachte Herr R. Anträge zur Verlängerung der Visa bei der zuständigen Behörde (in diesem Fall: BH Mattersburg) ein.
Nach dem Tod von Herrn R. waren die Pässe nach wie vor auf der BH. Der SA wurde darüber aufgeklärt, daß die Visa der Familie nicht verlängert werden können, da Frau M. aus einem Teil Bosniens kommt, der nicht von Serben okkupiert worden ist Eine Heimreise sei ihr und ihren Töchtern daher zumutbar, man räumte ihr einen zeitlichen Rahmen von zwei Monaten ein das Land zu verlassen, bei Unterlassung hätte sie mit einer Zwangsabschiebung zu rechnen.
Ca. zwei Tage nach der Ubersiedlung in das Flüchtlingsheim ertastete Frau M. einen relativ großen Knoten in der Brust und sprach darüber mit der SA. Es wurde ein Krankenhilfeantrag bei der Gemeinde eingebracht, die Gemeinde leitet die Anträge an die Sozialabteilung der BH weiter.
Nach dem Gesetz kann Ausländern Krankenhilfe gewährt werden, wenn es aufgrund ihrer persönlichen, familiären oder wirtschaftlichen Verhältnisse zur Vermeidung von sozialen Härten notwendig ist. Im Fall von Frau M. wurde die Krankenhilfe bewilligt. Frau M. wurde ins Krankenhaus gebracht, und zwei Tage darauf wurde sie operiert, der Knoten in der Brust stellte sich als bösartiger Tumor heraus.
Während ihres Krankenhausaufenthaltes kümmerte sich die Schwägerin von Frau M, die ebenfalls im Caritasheim wohnt (siehe oben), um die Mädchen.
Das Team von Neudörfl hat Frau M. in alle Handlungen, ihre Familie betreffend eingebunden. Es wurden ihr alle Schritte genau erklärt und teilweise an sie delegiert. Man wollte professionelle Hilfe anbieten und auf keinen Fall die Rollen der privaten „Helfer‘ übernehmen.
Das Ergebnis der Supervisionsbesprechung
Die Flucht spielt im diskutierten System eine große Rolle, schließlich hat Frau M. ihre Familie (Eltern und Geschwister) zurück gelassen.
Flüchtlinge haben gegenüber den Zuhausegebliebenen oft ein sehr schlechtes Gewissen. Nicht selten fühlen sie sich sogar als Verräter an der Heimat – das kann sich in einem übermäßigen Idealisieren der Heimat äußern, oder in Versuchen, die Angehörigen zu Hause mit Geschenken zu versöhnen.
Wenn jemand ein schlechtes Gewissen hat, d.h. wenn er glaubt Schuld auf sich geladen zu haben, wäre eine „Absolution“ ein möglicher Ansatzpunkt, um ihm zu helfen.
Im Fall von Frau M. könnte man z.B. sagen, daß sie das gesamte Leid Bosniens in sich trägt. Niemand könne ihr vorwerfen, sie hätte es gut gehabt. Sie hätte auch genug gelitten, d.h. sie müßte keine weiteren Opfer mehr bringen. In ihrem Fall würde das heißen, sie darf leben.
Da der Heimleiter in Neudörfl ein ehemaliger Priester ist, könnte Frau M. die „Absolution“ von ihm bekommen.
Wie hat sich der Fall bis jetzt weiterentwickelt?
Da nach wie vor Kontakt zum Flüchtlingsheim besteht, konnten wir die Situation auch weiterhin beobachten.
Der Heimleiter fand es in einem intensiven Gespräch mit Frau M. passend die „Absolution“ auszusprechen:
„Frau M., sie haben die letzten Jahre zwar in Österreich gelebt, aber sie haben für Bosnien wahrscheinlich mehr gelitten, als die zu Hause gebliebenen. Sie haben ihre Schuld längst beglichen, sie müssen sich nicht weiter opfern.“ (das waren ungefähr die Worte).
Frau M. ist in Tränen ausgebrochen und wollte allein gelassen werden. Nach ca. 2 Stunden hat sie die Sozialarbeiterin zu sich gebeten und sie konnte plötzlich über ihre Ängste und über ihre Trauer reden.
Massive Wut auf die Mutter kam zum Ausdruck, aber auch Wut auf die beiden Männer, die sie verlassen haben. Die alte Mutter mutierte plötzlich von einer hilfsbedürftigen und kranken Frau zu einer Krake, die die Tochter nie ausgelassen hat. Sie erzählte mir auch, daß ihre beiden Männer sie mißhandelt hätten, Herr R. hätte überhaupt nur Interesse an seiner leiblichen Tochter gezeigt.
Am Tag nach dem Gespräch hat Frau M. guten bosnischen Kaffee für das Team gekocht (vorher kochte sie nur Filterkaffee !) und gemeint, daß es ihr im Moment gut gehe. Aus medizinischer Sicht kann man das leider nicht sagen. Frau M. muß sich einer Chemotherapie und einer Strahlenbehandlung unterziehen, und leidet sehr an den Nebenwirkungen.
Frau M. und ihre Töchter konnten wegen ihrer Krebserkrankung das Land nicht verlassen. Der SA informierte die Fremdenpolizei in Mattersburg über die neuen Entwicklungen im Fall von Frau M. Der zuständige Beamte versichert, daß gegen die Familie keine Zwangsmaßnahmen gesetzt werden, so daß Frau M. ihre lebensnotwendigen Therapien in Ö abschließen kann.
Istia und Mura sprechen ab und zu über die Rückkehr. Momentan ist diese für sie vorstellbar, vorausgesetzt die Mutter wird gesund. Dieses Schuljahr wollen sie aber unbedingt in Österreich abschließen.
Ich habe beobachtet, daß Frau M. seit unserem Gespräch öfter über ihre Gefühle spricht. Sie kann Trauer und Wut jetzt zulassen und sie zeigt auch wesentlich mehr Engagement, wenn es um die Planung ihrer Zukunft geht. Sie ist sehr interessiert an der Klärung ihrer fremdenrechtlichen Situation. Auch einer etwaigen Abschiebung nach Bosnien sieht sie sehr realistisch entgegen, setzt aber trotzdem alles daran, in Österreich bleiben zu können.
D.h. ich konnte eine ziemlich deutliche Verhaltensänderung bei Frau M. feststellen. Ich habe das Gefühl, daß Frau M. dabei ist, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen.
Herr H.: Vom Alkoholiker zum Pflegehelfer
von Ines Strasser
Die folgende Fallgeschichte ereignete sich in meiner Arbeitsstelle. Es handelt sich dabei um einen Berufsfindungskurs für längerfristig erwerbslose Frauen und Männer, dem das Ziel zugrunde liegt, den Kursteilnehmer*innen im Zeitraum von sechs Monaten Arbeitstraining und berufliche Orientierung anzubieten. Es ist ein niederschwelliges Angebot, was bedeutet, dass die BeraterInnen des Arbeitsmarktservices all diejenigen dorthin vermitteln, die weder am ersten Arbeitsmarkt noch bei anderen, höherschwelligen Maßnahmen den Wiedereinstieg schafften. Oftmals handelt es sich dabei um Personen mit Multiproblematik, was neben dem Vermittlungsauftrag die sozialpädagogische Begleitung einen großen Stellenwert einnehmen lässt.
Zu dem Zeitpunkt, als Herr H. erstmals Kontakt zum Berufsfindungskurs hatte, war er 37 Jahre alt, geschieden und hatte eine sechzehnjährige Tochter, zu der er seit der Scheidung kaum Kontakt pflegte. Darüber hinaus hatte er bis auf die letzten drei Jahre einen lückenlosen Lebenslauf als Fleischer mit Lehrabschlussprüfung vorzuweisen.
Zum Zeitpunkt der Bewerbung um einen Kursplatz war er Alkoholiker, obdachlos beziehungsweise schlief er gelegentlich in einer Notschlafstelle und hatte ein dementsprechend vernachlässigtes äußeres Erscheinungsbild. Er erzählte, dass er bis vor seiner Scheidung vor drei Jahren ein geregeltes Leben mit Arbeit, gutem Verdienst und glücklichem Familienleben geführt hatte. Doch aufgrund der Scheidung und seiner darauf folgenden Alkoholkrankheit sowie seiner Selbstaufgabe war er auf der Straße gelandet.
Er schien hinsichtlich eines Kurseinstieges sehr motiviert zu sein und zeigte Interesse für die berufliche Orientierung in der Altenhilfe und im Metallbereich. Aufgrund seines Alkoholproblems schloss ich die Perspektive in der Pflege fürs Erste aus, ließ ihm allerdings die Option offen, bei Veränderung seiner gesundheitlichen Situation ein Praktikum in diesem Bereich absolvieren zu können. Er sah in einem baldigen Kurseinstieg eine Unterstützung hinsichtlich eines geringeren Alkoholkonsums. Abstinenz war für ihn zu diesem Zeitpunkt kein Ziel, weil auch eine dreiwöchige stationäre Entwöhnung nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte.
Nach Kursbeginn schaffte er es eine Zeitlang relativ nüchtern zu erscheinen und zeigte auch im Arbeitsbereich gute Leistungen sowie wichtige Arbeitshaltungen wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Lernbereitschaft und Ausdauer. Hinsichtlich seiner Wohnsituation hatte sich noch keine Lösung ergeben. Ich hatte ihm Unterstützung bei der finanziellen Absicherung zugesagt, sofern er ein konkretes Angebot vorlegen konnte. Insgeheim traute ich ihm aber nicht zu, dass er sich selbst eine Wohnung organisierte. Auch sein Alkoholkonsum nahm wieder derart zu, dass ich ihn einige Male nicht arbeiten lassen konnte, sondern nach Hause schicken musste, was zur Folge hatte, dass er für diese Tage kein Geld erhielt. Ich versuchte ihm in mehreren Gesprächen aufzuzeigen, dass er seine Sucht nicht allein in den Griff bekommen würde. Doch meine Botschaften schienen nicht anzukommen, und ich nahm einen wachsenden Ärger an mir wahr, der nach außen hin merkbar wurde. Er hielt zwar alle vereinbarten Gesprächstermine bei mir verlässlich ein, doch ich nahm wahr, dass er nicht gern zu mir kam und er spürte, dass ich ihm nichts zutraute.
Eines Tages hatte ich ein Schlüsselerlebnis, das mir klar machte, warum sich keine Veränderung einstellte. Ich erhielt einen Anruf von der Schwester von Herrn H., die bei mir vergeblich Einkünfte über seine Arbeitsleistungen und seine Einkommenssituation zu eruieren versuchte. Des weiteren meinte sie, dass meine Arbeit sinnlos sei, weil ihr Bruder es ohnehin nicht schaffen werde, und schilderte mir ausführlich, was er alles nicht tat, um ein „normales Leben“ zu führen.
Herr H. bewegte sich also in einem System – in diesem Fall in einem Familiensystem -, das sich genaue Regeln aufgestellt hatte, was unter dem so bezeichneten „normalen“ Leben zu verstehen war. Herr H. nahm somit eine Außenseiterposition in diesem System ein, weil er dem nicht entsprach.
Unter einem System versteht man „einen ganzheitlichen Zusammenhang von Teilen, deren Beziehungen untereinander quantitativ intensiver und qualitativ produktiver sind als ihre Beziehungen zu anderen Elementen. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehungen konstituiert eine Systemgrenze, die System und Umwelt des Systems trennt“ (Willke 1993 in: von Schlippe/Schweitzer 1999, S. 55). Lebendende Systeme -darunter fällt die Familie- sind vor allem von einer Eigendynamik gekennzeichnet, die durch bestimmte Verhaltensmuster am Leben gehalten wird (vgl. Simon 1990 in: von Schlippe/Schweitzer 1999, S. 55).
Darüber hinaus weisen Systeme folgende Eigenschaften auf:
· Ganzheit: Das bedeutet, dass das System im Ganzen beeinflusst wird, sobald nur in einem Teil eine Veränderung passiert.
· Übersummativität: Unter System versteht man ein Ganzes, das mehr beziehungsweise anders als die Summe seiner Teile ist.
· Äquifinalität: Ein bestimmter Endzustand kann durch verschiedene Möglichkeiten
· erreicht werden.
· Multifinalität: Die Benutzung unterschiedlicher Wege beziehungsweise das Ausgehen von ähnlichen Anfangsbedingungen führt nicht unweigerlich zu ähnlichen Endzuständen.
· Zirkuläre/nichtlineare Kausalität: Es wird von der Denkweise des Ursache-Wirkungs-Prinzips Abstand gehalten und statt dessen ein Kreislauf von sich gegenseitig bedingenden Faktoren angenommen.
(vgl. Simon et al 1984 in: de Shazer 1992, S. 40).
In einem System kann es vorkommen, dass eine Person ein Verhalten entwickelt, das zur Eskalation mit einer oder mehreren Personen im System führt. Somit entsteht eine dysfunktionale Beziehung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die zwei „GegnerInnen“ jeweils von der/vom anderen denken, dass sie/er im Unrecht ist. Im Endeffekt entsteht eine AußenseiterInnenposition für diejenige beziehungsweise denjenigen, die/der keine Definitionsmacht erlangen konnte, und daraufhin nicht mehr in der Lage ist, anders als in Gegnerschaft zu reagieren (vgl. Milowiz 1998, S. 82 – 86).
Aufgrund dieser theoretischen Überlegungen wurde mir auf einmal klar, dass Herr H. nicht das für ihn vorgesehene „normale“ Leben führte, sich somit in einer Außenseiterposition innerhalb seines Familiensystems befand und stets mit enormer Ablehnung sowie mangelndem Zutrauen konfrontiert war. Ich war in das selbe Verhaltensmuster gefallen wie das, das er schon kannte, was wiederum erklärte, warum keine Veränderung passieren konnte. Durch meine Haltung wurde für ihn klar, dass er es wieder einmal nicht beweisen konnte, es doch zu schaffen. Zur besseren Illustration zeige ich den Kommunikationskreislauf zwischen ihm und mir auf:
Ich musste den Kreislauf durchbrechen, indem ich anfing, mein Verhalten zu ändern. Nur so bekam Herr H. die Chance, auch anders reagieren zu können.
Bei meinem nächsten Gespräch mit Herrn H. legte ich deswegen vor allem darauf Wert, nach Ansatzpunkten zu suchen, um ihm Komplimente dafür zu machen, was ihm bisher alles gelungen war. Dazu zählte der Kurseinstieg, seine konstante Arbeitsleistung, die Tage, an denen er es geschafft hatte, nüchtern in die Arbeit zu kommen, das verlässliche Einhalten von Gesprächsterminen mit mir sowie den Umstand, dass er trotz seiner Rückfälle nicht wieder ganz zu trinken begonnen hatte. Zum Abschluss des Gesprächs wünschte ich ihm für seine Wohnungssuche noch viel Erfolg und teilte ihm mein Interesse über etwaige Angebote mit.
Komplimente werden in der systemischen Sozialarbeit als positive Konnotation verwendet und dürfen nicht mit Lob verwechselt werden. Ein Lob beinhaltet nicht die Wertschätzung, die aus einer gleichwertigen Position heraus transportiert werden soll. Der positiven Konnotation liegt die Annahme zugrunde, dass alle in einem System gesetzten Verhaltensweisen prinzipiell positiv beurteilt und als konstruktiver Beitrag gesehen werden (vgl. von Schlippe/Schweitzer 1999, S. 175 ff).
Trotzdem darf das nicht als Billigen von destruktiven Verhalten missverstanden werden, sondern es soll die Weltsicht des Gegenübers anerkennen, sein Selbstverständnis bestätigen, über Frustrationen hinwegtrösten und zu neuen konstruktiven Handlungsweisen motivieren (vgl. Berg/Miller 2000, S. 125f).
Aus meiner Erfahrung heraus hat sich gezeigt, dass nur dann positiv konnotiert werden sollte, wenn das Kompliment ehrlich gemeint ist. Ansonsten kann es leicht passieren, dass es als Abweisung oder Abwertung verstanden wird, denn unechte Komplimente werden sofort wahrgenommen. Wenn nichts Positives gefunden werden kann, sollte nochmals genauer hingeschaut oder abgewartet werden.
Bereits eine Woche später hatte Herr H. eine Wohnung gefunden und mit seinem Monatseinkommen die erste Miete eingezahlt, anstatt das Geld zu vertrinken. Zwei Wochen lang schaffte er es auch, nüchtern zu kommen. Doch dann fing er wieder an, auszufallen und wieder vermehrt zu trinken. Er informierte mich allerdings telephonisch darüber und bat mich trotz Krankenstandes um einen Termin.
Zu diesem Termin erschien Herr H. relativ nüchtern und meinte, nicht mehr weiter zu wissen, und dass er auch nicht mehr daran glaubte, ohne Alkohol leben zu können.
In diesem Zusammenhang fragte ich bewusst nicht nach der Ursache des Rückfalls, weil dieser nicht relevant für die Problemlösung war, sondern ich versuchte gemäß Zukunfts-, Ressourcen- und Lösungsorientierung nach Ausnahme – Situationen zu suchen, in denen er es geschafft hatte, nichts zu trinken, und ließ mir diese Situationen im Detail beschreiben.
Lösungs- bzw. ressourcenorientiert zu arbeiten beinhaltet die Annahme, dass jedes System bereits über Ressourcen zur Problemlösung verfügt, diese aber im Moment nicht nützt oder nützen kann (vgl. von Schlippe/Schweitzer 1999, S. 124f). Der systemische Ansatz orientiert sich zudem weniger an der Vergangenheit, sondern vielmehr an der Zukunft, um durch den Blick nach vorn und durch das Formulieren von Zielen Fortschritte zu ermöglichen und nicht im Leid stecken zu bleiben. Wohl aber wird der Vergangenheit insofern Bedeutung beigemessen, als dass sie Lernerfahrungen ermöglicht hat (vgl. Furman/Ahola 1992, S. 40-60).
Die Suche nach Ausnahmen von der Problemsituation richtet den Blick auf vorhandene Ressourcen und ermöglicht, diese zu reflektieren und zu vertiefen. Dabei handelt es sich in vielen Fällen nicht nur um bewusste, sondern auch um spontane Ausnahmen. Diese häufig zu wiederholen und detailliert beschreiben zu lassen, hilft den KlientInnen dabei, diese realer werden zu lassen und Erfolge sichtbar zu machen (vgl. Berg/Miller 2000, S. 91-94).
Herr H. erzählte mir davon, dass er es einmal über ein halbes Jahr geschafft hatte, nüchtern zu bleiben. Er betrieb damals viel Sport, hatte Freunde, die ihn dabei unterstützten und ging auch einer Arbeit nach, die ihm Spaß machte. Ich ließ mir diese Punkte im Detail schildern und fragte anschließend, ob er im Moment eine Unterstützung zur Abstinenz darin sah, diese erfolgreichen Strategien wieder anzuwenden. Da er sich das vorstellen konnte, wünschte ich ihm für sein Gelingen viel Glück und vereinbarte einen neuen Termin in zwei Wochen.
Beim folgenden Gespräch berichtete er mir mit strahlendem Gesicht seine Erfolge, und ich fragte erneut detailliert nach seinen Strategien, um ihm eine weitere Vertiefung zu ermöglichen. Ich konnotierte seine Erfolge positiv und gab ihm zum Abschluss des Gespräches noch den Auftrag, von dem, was ihn bisher bei der Abstinenz unterstützt hatte, mehr zu tun.
Diesem Auftrag liegt einer der drei Grundgedanken des lösungsorientierten Ansatzes zugrunde.
„1.) Wenn etwas nicht kaputt ist, mache es nicht ganz!
2.) Wenn du einmal weißt, was funktioniert, mache mehr vom selben!
3.) Wenn es nicht funktioniert, laß es sein, mache etwas anderes!“
(Berg/Miller 2000, S. 33).
Diese Grundgedanken sollte man stets geistig präsent haben, weil dadurch dysfunktionale Beziehungen transparent und alternative Reaktionsmöglichkeiten aufgezeigt werden.
Herr H. war ab diesem Zeitpunkt nicht gänzlich abstinent, die Abstände seiner Rückfälle wurden jedoch immer größer und auch der Rückfall an sich dauerte nur mehr in etwa einen Tag. Auch in diesem Zusammenhang waren keine Vorwürfe oder Unverständnis von mir zu hören beziehungsweise zu spüren, sondern ich machte ihm Komplimente dafür, dass er es schaffte, aus dem Rückfall so schnell wieder heraus zu kommen, und erarbeitete immer wieder Ausnahmesituationen in seinem Handeln, wobei er seine Strategien immer mehr erweitern konnte. Darüber hinaus erzählte er mir jedes Mal ehrlich von seinem Rückfall und schob keine „andere Krankheit“ vor, was auf eine kooperative sowie vertrauensvolle Beziehung schließen ließ. Des weiteren hieß das für mich, dass ich es geschafft hatte, aus dem ihm so bekannten Muster auszusteigen, was ihm wiederum ermöglicht hatte, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und somit andere als die bisher destruktiv erlebten Reaktionen ihm gegenüber zu erleben. Des weiteren achtete er in größerem Ausmaß auf sein Äußeres und legte besonderen Wert auf Hygiene.
Nach einer weiteren Zeit kam Herr H. von sich aus auf die Perspektive der Altenhilfe zu sprechen. Er fühlte sich nun körperlich und psychisch bereit, sich einem vierwöchigen Praktikum zu stellen. Ich zeigte mich dieser Perspektive gegenüber prinzipiell aufgeschlossen und erarbeitete mit ihm Befürchtungen, Erwartungen und die Motivation zur Absolvierung einer Ausbildung, die in diesem Bereich unumgänglich ist. Herr. H. vereinbarte für die kommende Woche einen Vorstellungstermin für ein Praktikum im Altenheim der Caritas. Nach seinem Termin erschien er im Berufsfindungskurs, und ich erkannte ihn kaum wieder. Sein äußeres Erscheinungsbild hatte sich derart verändert – er hatte einen neuen Haarschnitt und trug saubere sowie elegante Kleidung. Eine Woche später begann er sein Praktikum, im Rahmen dessen wir wöchentlich Gespräche vereinbarten. Er schien mit jedem Tag mehr „aufzublühen“, und auch die Rückmeldung von meinen KollegInnen war durchaus positiv. Das führte soweit, dass sein Kurs verlängert wurde, damit er die Aufnahmeprüfung für die Ausbildung machen konnte. Die Zeit bis dahin arbeitete er weiter im Altersheim mit. Unsere Gespräche verlagerten sich immer mehr auf die Reflexion der pflegenden Tätigkeiten und die Vorbereitung auf die Prüfung. Herr H. war seit dem Praktikum nicht mehr rückfällig geworden, und auch meine KollegInnen hatten keinen Alkoholkonsum wahrgenommen.
Herrn H. gelang es trotz enormen Drucks nüchtern zur Aufnahmeprüfung zu gehen. Eine Woche später erhielt er eine positive Entscheidung und begann mit der Ausbildung.
Symptomverschreibungen
von Renate Pokorny
Wenn der/die SozialarbeiterIn eine passende Idee hat kann es sich, z.B. bei sehr eingefahrenen Beziehungsmustern, lohnen, es mit einer Symptomverschreibung zu probieren. Natürlich bedarf dies einer gewissen Kenntnis des Klienten und seiner Lebensumstände, damit er – falls er sie wirklich befolgt – nicht noch schlechter dran ist.
Beispiel: Klient H. „Bewußt genießen“
Herr H. hatte nach seiner Pflichtschulzeit eine Lehre begonnen, abgebrochen, einige kürzere Arbeitsverhältnisse gehabt, und war nun schon über 1 Jahr arbeitslos, wohnte bei seiner Mutter, und beteuerte mir immer wieder er wolle ja so gerne arbeiten gehen, aber es finde sich nichts. Auch beim Arbeitsamt war er nicht gemeldet, obwohl er eventuell sogar Anspruch auf Arbeitslosengeld gehabt hätte.
Im Laufe einiger Gespräche kamen wird darauf, daß Arbeiten gehen für ihn mit der Phantasie verbunden war, dann müsse er von seiner Mutter wegziehen und selbständig werden. Diese Vorstellung ängstigte ihn, die Nähe und Geborgenheit, die es ihm vermittelte bei seiner Mutter zu wohnen, wollte er nicht vermissen. Er war der älteste Sohn seiner Mutter, welche inzwischen 4 Kinder aus 3 Ehen hatte, und war offenbar in seinem Bedürfnis nach Liebe und Anerkennung der Mutter zu kurz gekommen, zumindest was Anerkennung und Liebe ohne dafür erbrachte Leistung betraf. Er konnte diesen Wunsch bei sich erkennen und ausdrücken.
Ich empfahl ihm, für die nächsten 2 Monate seine halbherzigen Versuche Arbeit zu finden zu unterlassen, und sich jedesmal, wenn er überlegen würde, auf Arbeitssuche zu gehen, dies bewußt zu unterlassen. Er sollte vor allem darauf achten, dieses Gefühl des „Versorgtwerdends“ richtig auszukosten. Eigentlich konnte also nichts weiter passieren, als er bislang schon tat: daß er weiterhin keine Arbeit suchte.
Er „hielt“ allerdings nur 3 Wochen „durch“. Dann brauchte er Geld und kam sich auch, wie er mir sagte, „blöd vor“, so absichtlich daheim herumzusitzen. Einen anhaltenden Effekt für die Betreuungsbeziehung hatte es außerdem: er versuchte mir gegenüber nicht mehr vorzutäuschen, arbeiten gehen zu wollen, wenn er lieber zu Hause blieb. Wir konnten also zu anderen Themen übergehen, denn damit war auch klar, daß er selbst Arbeit finden konnte, wenn er dies wollte.
Eine noch verblüffendere Wirkung hatte ein ähnliches paradoxes Verhalten bei einem anderen Klienten.
Beispiel: Klient N. übernimmt Verantwortung
Herr N., 19 Jahre alt, lebte zu Hause. Er und seine Mutter waren beim ersten Hausbesuch meinerseits anwesend. Als Thema wurden vom Klienten und seiner Mutter sofort die fehlende Arbeit für Herrn N. angesprochen. Sie erklärten mir beide, was er bisher gemacht hatte, und daß es so schwer ist Arbeit zu finden, beide hätten so gern, daß Herr N. Arbeit finden würde. Gleichzeitig erwähnten sie aber, daß Herr N. schon lange nicht einmal irgend etwas versucht hatte, um Arbeit zu finden, außer, daß er seine Freunde fragte, ob sie etwas für ihn wüßten, und selbst wen dem so war, war immer irgendein Grund – Arbeitszeit, Arbeitsort, Bezahlung, langweilige Tätigkeit etc. – warum er gerade diese Arbeit nicht annehmen konnte. Außerdem hätte er eben keine rechte Ausbildung, darum bekomme er keinen interessanteren oder besser bezahlten Job, etc.
Im Laufe dieses Gespräches informierte ich Herrn N. und seine Mutter welche Möglichkeiten es noch gäbe, Arbeitsamt, Zeitung, Berufsinformationszentren, Umschulungskurse, etc. Nichts davon erschien ihnen aber besonders interessant. Allerdings hatte ich den Eindruck, daß der Mutter von Herrn N. sehr wohl klar war, daß er eigentlich mehr unternehmen könnte, und sie war auch wesentlich interessierter zumindest den Anschein zu wahren, daß ihr Sohn „arbeitswillig“ wie.
Irgendwie gab es eine stillschweigende Übereinkunft, daß eine „offizielle Version“ präsentiert werden sollte, daß es an äußeren Hindernissen läge, daß Herr N. arbeitslos war, während es eine „verborgene Übereinkunft“ zu geben schien, die es für Herrn N. und seine Mutter zu einer befriedigenden Tatsache machte, wenn er zu Hause und arbeitslos blieb.
Nachdem wir dieses Thema einige Zeit besprochen hatten, teilte ich dem Klienten und seiner Mutter mit, daß ich sehe, das Thema Arbeit wäre wichtig für sie. Es sei aber offensichtlich so, daß es für sie auch sehr positiv sei, wenn Herr N. nicht arbeiten ginge, denn sonst würde er es ja tun. Diese Tatsache könne ich natürlich nicht übergehen, denn wie käme ich dazu, mich derart einzumischen, ich würde sehr wohl respektieren, daß für beide (Mutter und Sohn) der derzeitige Zustand zwar mit Nachteilen verbunden, aber doch anscheinend vorzuziehen sei. Außerdem habe mich meine Erfahrung gelehrt, daß, wenn jemand arbeiten gehen wolle, er dies auch tue. Ich hätte vor allem den Eindruck, daß Herr N. und auch seine Mutter gescheit und informiert genug wären, um die nötigen Schritte in Richtung Arbeit zu tun, sollten sie sich dazu entschließen. Daher wäre es nur logisch, daß ich unnötigen Aufwand vermiede und in diesem Punkt nichts für Herrn N. unternehmen würde, es sei denn, er hätte einen ganz konkreten Wunsch an mich.
Beide – vor allem die Mutter – waren sehr verblüfft, da sie anscheinend erwartet hatten, daß ich nunmehr mit Herrn N. Pläne schmieden würde, wie er zu Arbeit kommt und wie ich ihm dabei helfen würde. Sie konnten aber dem positiven Anteil meiner Aussage, daß sie gescheit und informiert seien und ihr Recht auf Selbstbestimmung zu beachten sei, nicht widersprechen.
Eigentlich hatte ich erwartet, daß Herr N. auch bei meinem nächsten Hausbesuch – 14 Tage später – noch arbeitslos sein würde. Überraschenderweise hatte er jedoch eine Arbeit gefunden. Es erschien mir zumindest nicht auszuschließen, daß meine Intervention zu dieser Veränderung beigetragen hat, da sich sonst keine Umstände in seiner Lebenssituation verändert hatten. Meine Vermutung ist, daß „nicht arbeiten gehen“ als „bewußter und offensichtlicher Entschluss“ für Mutter und/oder Sohn nicht mehr durchzuhalten war.
Der Klavierspieler
von Conny Karlburger
Herr M wohnt in einem Gemeindebau, er spielt zu jeder Tages- und Nachtzeit Klavier, ladet viele Freunde ein, die auch zeitweise bei ihm wohnen. Beim Gießen seiner Tomatenpflanzen am Fenster rieselt die Erde auf die Fensterbretter seines NachbarInnen. Tag und Nacht läßt er die Türe und all seine Fenster offen. Einige NachbarInnen fühlen sich durch diese Verhaltensweisen sehr gestört und brachten zahlreiche Beschwerden vor, so daß es nun zu einer gerichtlichen Verhandlung wegen „unleidlichem Verhalten“ gekommen ist, die zum Verlust der Wohnung führen kann.
Ich werde einmal mit den Sichtweisen beginnen.
Kausale Sichtweise
Herr M stört seine NachbarInnen. Er hält sich nicht an die Hausordnung.
Herr M ist ein schwieriger Nachbar.
oder
Die NachbarInnen sind kleinkariert und mischen sich zu sehr in das Leben von Herrn M ein. Die Nachbarn von Herrn M sind schwierig.
Systemische Sichtweise
Herr M und seine NachbarInnen bilden ein Subsystem mit gegenseitigen Wechselwirkungen. Es ist nicht mehr entscheidend, ob entweder Herr M oder die NachbarInnen ein Problem haben, sondern – sowohl die NachbarInnen als auch Herr M haben ein Problem.
Nicht das WARUM ist zu klären, sondern die neugierige Frage „Wie machen die denn das?“
Zusätzlich versuchen wir dieses Subsystem unter dem Blickwinkel der Neutralität zu betrachten.
Das ist sehr schwierig, weil wir ab dem Zeitpunkt der Beobachtung schon Teil des Systems sind und sehr leicht neue Wechselwirkungen entstehen können.
Zum Beispiel wenn wir selber von NachbarInnen gestört werden, weil diese unaufhörlich trommeln oder immer an die Wände klopfen wenn wir Musik hören möchten.
Wie auch immer – ich beschließe nun die Realität der Neutralität zu konstruieren.
Ein Hilfsmittel kann die Methode der verschiedenen Brillen sein, indem wir uns in die Rolle von Herrn M begeben und uns vorstellen die NachbarInnen stören uns ständig in unserer künstlerischen Entwicklung oder wir stellen uns auf der anderen Seite vor, wir sind PensionistInnen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben und nicht schätzen ständig Schönberg fortissimo zu hören.
Beide TeilnehmerInnen oder Elemente dieses Systems fühlen sich durch den anderen gestört und setzen unterschiedliche Aktionen um den anderen vom eigenen Standpunkt zu überzeugen. Es entsteht eine Kampfsituation, die vermutlich in einer symmetrischen Eskalation enden könnte.
Unabhängig von diesen Betrachtungsweisen wird die Sozialarbeiterin eingeschaltet. In diesem Fall von Herrn M.
Problembearbeitung
Mit dem problemorientierten Ansatz kann ich je nach Identifikation versuchen, mich auf eine Seite zu stellen und das Problem Herr M oder die NachbarInnen zu bearbeiten.
In diese kausale Falle tappte ich auch tatsächlich und versuchte Herrn M davon zu überzeugen, mehr Rücksicht zu nehmen und nicht zu viel Klavier zu spielen. Das war weder leicht noch durchführbar und ziemlich unerträglich. Es hat mir Zeit und Nerven gekostet. Dabei ärgerte ich mich immer wieder über die NachbarInnen, die keine Kleinigkeit auslassen konnten, sich über diesen unmöglichen Mann zu beschweren. Ich bemerkte, daß ich in diesem System mit meinen konstruierten Lebensphilosophien zwei Seiten zusammenbringen wollte, indem ich jeden versuchte zu überzeugen, daß der andere ja nicht der „Übelste“ wäre.
Lösungsorientierte Versuche mit Hilfe der systemischen Sichtweise
Herr M wandte sich an mich als Sozialarbeiterin. Ich hatte aber nicht genau geklärt womit er mich beauftragen wollte und kam dadurch in einen Strudel verschiedener Aufträge, die ich auf Grund meiner persönlichen Interaktionsmuster alle unhinterfragt übernehmen wollte.
Herrn M die Wohnung erhalten – den NachbarInnen ein ruhiges Leben ermöglichen – meinen dienstlichen Auftrag der Wohnungssicherung erfüllen – und zusätzlich habe ich mir noch weitere ausgedacht. ( z.B. den Ruf der BeamtInnen retten: durch fleißiges und bemühtes Verhalten um damit ein paar „F-Wähler*innen“ zu bekehren …)
Diese Vorgangsweise ist letztendlich schwer zu ertragen und noch viel schwerer ist es, damit zu einer Lösung zu kommen.
Der nächste Versuch war, dem systemischen Ansatz schon etwas näher. Es wurde eine Hausversammlung einberufen, weil ich gemeinsam mit der Gebietsbetreuung feststellte, daß der Ärger im Haus auch mit den nicht fertiggestellten Renovierungsarbeiten in Zusammenhang stand. Die enge Problemdefinition erweiterte sich.
Das bedeutet, daß das System eigentlich größer war und die NachbarInnen sich von der Hausverwaltung mit all ihren Problemen im Stich gelassen fühlten. Bei dieser Versammlung wurde allen Stimmen Platz gegeben und die Hausverwaltung, die Mietervereinigung und ein Bezirksrat eingeladen.
Das System wurde viel größer und die Wechselwirkungen sowie Rückkoppelung betrafen von nun an auch die politische Ebene. Denn es stellte sich heraus, daß viele NachbarInnen den Eindruck hatten, auf sie hört niemand und plötzlich gab es eine Plattform auf der ihre Sorgen und Themen gehört und diskutiert wurden.
Gegen Ende der Versammlung wurden Vereinbarungen zwischen Herrn M und den Nachbar*innen getroffen. Um zu diesem Ziel zu kommen, waren folgende zirkuläre Fragen nützlich:
- Woran würden sie als erstes merken, daß sich die Situation bessert?
- Wie lange, denken sie, braucht es, bis alle im Haus wieder ihr Leben ungestört führen können?
- Gab es Zeiten in denen alle zufrieden waren ?
Doch ich begann mich im Stillen zu fragen, ob es wirklich darum ging, daß alle in Ruhe leben wollten ?
In einem späteren Gespräch, das ich mit einer Kollegin gemeinsam führte, wurde mir erst deutlich, welchen Auftrag Herr M mir erteilt hatte:
„Komm auf meine Seite und werde ein Kampfmittel um die NachbarInnen zu besiegen !“
Die NachbarInnen jedoch wollten, als ich mit Ihnen Kontakt aufnahm, daß ich entweder Herrn M verzaubere oder ihnen helfe Herrn M zu beseitigen.
Ich hüpfte von einer Seite zu anderen, ein Lösungsansatz, der mir auf Grund meines Interaktionsmuster, sehr schnell zur Verfügung steht.
Ab diesem Zeitpunkt probierte ich etwas ganz anderes. Ich entschuldigte mich bei Herrn M, daß ich ihm nicht wirklich zugehört hatte. Ich hätte versucht, aus einem, der kämpfen wollte, einen „Kompromißler“ zu machen. Ich sähe ein, daß dies komplett unmöglich wäre. Ich hätte nun erkannt, wie gut er kämpfen könnte und bestärkte ihn diesen Weg fortzusetzen. Bei einem Kampf wird es einen Sieger und einen Verlierer geben.
Abschließend wünschte ich ihm alles Gute für seinen Sieg.
Ich wollte mich bei ihm verabschieden, als es plötzlich zu einer Trendumkehr kam. Herr M blieb sitzen und erklärte mir, daß man es so „extrem“ nicht sehen könnte, denn seit der Hausversammlung wären die NachbarInnen viel netter und hätten auch bei der ersten Tagsatzung bei Gericht gesagt, daß es mit ihm besser geworden wäre, seitdem die Sozialarbeiterin auf die Bildfläche getreten war und ihn betreute.
Auf meine Frage, ob er noch etwas von mir bräuchte, wusste er zu Beginn des Gesprächs nichts.
Es stellte sich nun heraus, dass es ihm ein Anliegen wäre den NachbarInnen das Bild zu vermitteln, Herr M würde „betreut“. Diese Überlegung fand großen Anklang und ich erlebte das erste Mal, daß er sich damit beschäftigte den NachbarInnen entgegen zu kommen.
Diese Geschichte ist noch nicht abgeschlossen. Derzeit gibt es keine Beschwerden mehr. Ein Nachbar trat vor Gericht sogar von seinen Anschuldigungen zurück.
Wie es sich auf Dauer weiterentwickeln wird, ist noch nicht absehbar.
Rückblickend gesehen, war entscheidend …
- … die Zusammenhänge aller Beteiligten zu sehen und nicht einzelne Personen im vereinfachten Ursache- und Wirkungsprinzip verändern zu wollen.
- … alle Wünsche, Zielvorstellungen sowie Aufträge genau abzuklären, die eigenen Aufträge ebenso miteinzubeziehen und sich einen Schritt davon zu entfernen.
- Es hat sich auch gezeigt, daß es wirklich hilfreich sein kann, manchmal Gespräche zu zweit zu führen, um mehr Abstand und damit auch Klarheit über Interaktionsmuster in Betreuungssituationen zu erlangen.
- … eine Problemfixierung zu vermeiden, lösungsorientierter zu arbeiten und dabei das Problem deutlicher zu definieren.
- … unerwartete Handlungen zum richtigen Zeitpunkt zu setzen. Dabei ist es ganz wichtig, daß diese sowohl in das vorhandene Weltbild hineinpassen als auch ausreichend neue Aspekte bringen um Veränderungen zu bewirken.
- In diesem Zusammenhang habe ich mich gefragt, ob es sich anders entwickelt hätte, wenn ich Herrn M schon am Anfang bestärkt hätte seinen Kampf weiterzuführen. Aber dazu wäre es notwendig gewesen, eine Intervention in einen passenden Kontext zu stellen, der mir damals weder ein- noch aufgefallen ist.
Andererseits habe ich mir gedacht, es war nicht so schlecht dieses Spiel eine Runde lang mitzuspielen. Es hat sich dadurch ein Kontakt entwickelt, den ich prinzipiell für sehr wichtig in unserer Arbeit halte, und wir hatten dadurch wirklich die Möglichkeit unsere beiden Interaktionsmuster kennenzulernen um dann als nächsten Schritt etwas Neues auszuprobieren, das in das vorhandene System passt.
… und während dieser Gedanken bemerke ich, wie bemüht ich bin, meine Interaktionsmuster zu rechtfertigen, um sie in gehabter Weise aufrechtzuerhalten.
Ich erinnerte mich an die Theorie der Autopoiese, die ja besagt, daß wir bestrebt sind unseren Systemzustand immer wieder herzustellen.
Denn auch meine Interaktionsmuster unterliegen diesen Gesetzen, die ich allerdings bei anderen viel schneller entdecken kann.
Die „Blöd-Seins-Theorie“
von Klemens Fraunbaum
Einleitung
Ein Arbeitstrainingszentrum ist eine berufliche Rehabilitationseinrichtung für Menschen, die aufgrund psychischer oder psychosozialer Probleme oder Erkrankungen aus dem Berufsleben herausgefallen sind bzw. nicht in der Lage waren, darin Fuß zu fassen. Unsere Aufgabe ist es, diesen Menschen in der Kursdauer von 17 Monaten (inkludiert sind ca. drei Monate für Betriebspraktika) in einem Trainingsbereich (z.B. Küche, Büro, Tischlerei, Druckerei,…) – betreut von einem Team, bestehend aus einer Fachkraft und einem Sozialarbeiter – dabei behilflich zu sein, sich möglichst gut auf einen Wiedereinstiegsversuch ins Berufsleben vorzubereiten. Das umfaßt neben einer individuellen Betreuung am eigentlichen Arbeitstrainingsplatz auch Gruppen- und Einzelgespräche, mit dem Ziel, den KlientInnen nach besten Möglichkeiten dabei behilflich zu sein, ihre Probleme – vor allem die, welche zum Scheitern ihrer beruflichen „Karriere“ geführt haben – bewußt zu machen, Lösungsmöglichkeiten und Wege zu suchen und zu finden, ihr (Berufs-)leben besser in den Griff zu bekommen.
Ich habe versucht, einige Passagen aus der Betreuungsarbeit mit einem speziellen Klienten – Herrn K. – zu beschreiben. Die Aufzeichnungen – den Verlauf der Gespräche, Nachbesprechungen und Gedanken betreffend – sind verständlicherweise unvollständig. Eine vorangehende Beschreibung des ausgewählten Klienten und seines Werdeganges halte ich nicht für notwendig, ein Kennenlernen ergibt sich zwangsweise beim Lesen. Der gelegentliche Wechsel von der „ich“- in die „wir“-Form (und umgekehrt) erklärt sich daraus, daß Klientengespräche meistens, aber nicht immer, von beiden Betreuern gemeinsam geführt werden. Ich habe mich auch bemüht, mir wichtig erscheinende Abschnitte ausführlicher, andere wiederum in Kurzfassung so zu beschreiben, daß man meinen Gedanken- und Schreibsprüngen hoffentlich einigermaßen folgen kann.
Die 1. Sitzung
Wie immer fragte ich auch dieses Mal Herrn K., bevor wir uns mit dem eigentlich vereinbarten Thema auseinanderzusetzen beginnen wollten, nach seinem gegenwärtigen Befinden, nicht zuletzt, weil mir schon am Morgen desselben Tages (übrigens ein Montag nach einem verlängerten Wochenende) aufgefallen war, daß Herr K. sehr gedämpft wirkte – so als hätte ihm jemand mit einem großen Hammer einen Schlag auf den Kopf gegeben. Ich hatte also meine Frage kaum ausgesprochen, da antwortete Herr K. zuerst mit einem tiefen Seufzer und indem er seinen Kopf senkte und in eine leicht identifizierbare Leidensmine brachte und daraufhin in Worten: es gehe ihm sehr schlecht und der Grund dafür liege auf der Hand, nämlich weil er am Wochenende eine für ihn bitterliche Niederlage einstecken mußte. Er schien sichtlich erleichtert, als er das an den Mann/Frau gebracht hatte. Ich fragte sicherheitshalber noch nach, ob er diese Situation und sein damit zusammenhängendes schlechtes Befinden dem eigentlich vereinbarten Thema vorziehen und in dieser Sitzung besprechen wolle, was er sofort bestätigte. Mir war in diesem Augenblick schon klar, daß dieser Wechsel des ursprünglichen Themas gewiss mehrere Funktionen für Herrn K. hatte.
Mir schossen viele Gedanken durch den Kopf. Neben der Einsicht, daß Probleme, akute Schwierigkeiten und eben das, was dem Klienten aktuell am wichtigsten erscheint, mit Vorrang zu behandeln sei, fragte ich mich schon auch, welchen Zusammenhang oder Gegensatz es zwischen dem vereinbarten und dem akuten Thema geben konnte oder anders formuliert: was bewegte Herrn K. dazu, das eigentlich vereinbarte Thema, das sich mit seinen Nahzielen im Arbeitstraining für die nächsten Wochen auseinandersetzen sollte, gegen ein Thema, bei dem er in bemitleidenswerter Opferrolle Rat und Hilfe braucht zu tauschen? Ein kurzer gedanklichen Ausflug ins Reich der Sichtweisen und „Brillen“ – speziell der „Vorteil – Nachteil“ – Brille lieferte mir z.B. folgende Stichworte: mit dem Thema „Ziel“ ist eine aktive Auseinandersetzung unerläßlich, d.h. Nachdenken, Bemühung, Offenheit und auch die vereinbarte Vorbereitung auf das Gespräch stellen schon einen ernstlichen Aufwand an Zeit und Energie dar. Eine bemitleidenswerte Situation hingegen verlangt üblicherweise zuerst einmal Verständnis, Zuhören und Hilfsangebote des Sozialarbeiters. Ein Thema, in dem es um Ziele geht, kann den oft mühsamen, steinigen Weg zur Erreichung derselben nicht außer Acht lassen, es entsteht daraus auch ein Auftrag zur Aktivität, zur Tat, zum Bewältigen von Hindernissen, zu Verzicht u.v.m. Eine bedauernswerte Situation andererseits bringt oft eine gewisse Schonung, Rücksicht, Abnehmen von Aufgaben und Verantwortung etc. mit sich. Die Aktivität – um es nicht Zugzwang zu nennen – ist im Fall einer Zielorientierung klar beim Klienten verlangt, in einer „Not“ – Situation wird Aktivität normalerweise zuerst vom Sozialarbeiter, Berater etc. erwartet. Diese und andere Stichworte wurden durch den Themenwechsel in mir geweckt und beeinflußten unweigerlich mein weiteres Verhalten in dieser Situation. Das Bewußtsein darüber, daß es nur Phantasien, ja möglicherweise Vorurteile waren, steigerte jedenfalls die Möglichkeit, dem Klienten objektiver und offener gegenüberzustehen. Und so bat ich ihn, zu erzählen, was den vorgefallen sei, was er auch tat:
Er hätte am vergangenen Wochenende eine so bitterliche Niederlage einstecken müssen, die nun dazu geführt hat, daß er – nach eigenen Worten – „schwer depressiv“ sei, weil er „zu blöd zu allem“ und ein furchtbarer „Dodel“ wäre. Alle Menschen um ihn würden diese Unfähigkeit bemerken und ihn auch wie einen „Dodel“ behandeln. Eine Konsequenz auf diese furchtbare Situation sei auch, daß er sich mit Selbstmordgedanken trage.
Ich war beeindruckt, daß er gleich am Anfang seiner Schilderung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, auch mit so scharfen Geschützen wie Selbstmorddrohungen, auffuhr. Einerseits signalisierte es mir den Ernst der Lage, andererseits konnte es (zusätzlich noch) eine plausible Rechtfertigung für den vorgenommenen Themenwechsel sein und meine Phantasien und Gedanken – wie ich sie oben erwähnt habe – ihrer Berechtigung berauben. Auffallend jedoch war für mich die bereits schon mehrmals in vorherigen Gesprächen erfolgte Erwähnung bzw. Betonung seiner Unfähigkeit, seines „zu – blöd – zu – allem – Seins“. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich ein Ansprechen dieser Auffälligkeit allerdings für unpassend und verfrüht, auch die Selbstmordgefahr wollte ich vorerst nicht durch übertriebene Reaktion darauf überbewerten oder aufputschen, nicht zuletzt, um ihn nicht unbewußt dadurch zum Beweis der Ernsthaftigkeit seiner Selbstmord – Drohung durch Ausführung desselben zu provozieren, aus Angst sonst sein Gesicht zu verlieren. Auch wußte ich ja noch überhaupt nicht, was es mit dem bisher Gesagten auf sich hätte, zumal er ja noch kein Wort darüber verloren hatte, was eigentlich passiert sei und was seine Situation so brenzlig gemacht hatte. Diese Angelegenheit sollte vorerst mit Vorrang behandelt werden. In diesem Sinne bat ich ihn darum, seine Erlebnisse, die zu seiner „Krise“ geführt hatten, zu schildern. So erzählte er:
Am vergangenen Wochenende sei er in Wien gewesen, habe dort einen Freund besucht. Diesen Freund kenne er – ein eingefleischter Ostbahn – Kurti – Fan – wie könnte es anders sein, eben von Ostbahn – Kurti – Konzerten. Sie träfen sich auch in erster Linie bei Ostbahn – Kurti – Konzerten und/oder gingen gemeinsam „saufen“. Oft ließen sich auch diese beiden Hobbys miteinander verbinden. Ohne daß ich ihn danach gefragt hätte, charakterisierte er seinen Freund als gleichgültigen Typen, Säufer, eh kein „richtiger“ Freund, der mit Geld nicht umgehen kann und deshalb trotz seines hohen Gehalts sehr hohe Schulden hat. Wie sie es schon öfter gemeinsam praktiziert hatten, fuhr er – Herr K. – also auch dieses Mal zum verlängerten Wochenende nach Wien, um mit seinem Freund einer oder beiden besagten Lieblingstätigkeiten zu frönen. Im Zuge dessen besuchten sie auch gemeinsam eines der Stammbeisln des Freundes. Just an diesem Tage feierte die Wirtin selbst ihren Geburtstag, und zwar zusammen mit ihren Stammgästen. Zur Feier des Tages gab es für die Gäste ein Abendessen. Beim Austeilen der Gedecke bestätigte sich Herrn K.’s schon länger gehegtes Gefühl, in diesem Beisl absolut nicht willkommen zu sein, denn für alle Gäste wurde zum Essen aufgedeckt, nur für ihn nicht. Als er seinen Freund daraufhin ansprach, organisierte dieser, daß ihm auch noch ein Gedeck gebracht wurde. Herr K. war verständlicherweise in seiner Ehre tief gekränkt, seinen Freund dürfte dieser Zwischenfall weniger berührt haben. So wurde anschließend das Festessen verzehrt und munter weiter getrunken. Nach geraumer Zeit dachte sich Herr K., es wäre günstig einmal eine Zwischenabrechnung für die Zeche zu machen, um nicht den Überblick zu verlieren. Er bestellte den Kellner und teilte ihm seine Absicht mit. Beim Vorlegen der Rechnung jedoch erschrak Herr K. nicht schlecht, denn für zwei Halbe Bier (nach seiner Erinnerung in der Speisekarte mit je ca. 30,– Schilling veranschlagt), ein Baguette (28,– Schilling) und vier Schnaps (30,– Schilling pro Stamperl) zahlte er nicht weniger als 550,– Schilling (gemäß den angeführten Preisen wäre der verrechnete Betrag mehr als das Doppelte der richtigen Summe!). In der Ahnung, daß da irgend etwas nicht mit richtigen Dingen zugehen konnte, meldete er beim Kellner seine Zweifel über die Richtigkeit dieser Abrechnung an. Der Kellner habe ihn daraufhin „verarscht“, vor den anderen Gästen blamiert und gesagt, daß das so schon in Ordnung sei und er für diese Summe auch konsumiert hätte und, daß er – falls ihm irgend etwas nicht passen sollte – ja ruhig gehen könne. Sein Freund hätte zu dieser ganzen Szene nur geschwiegen und sich weiter betrunken, erzählt Herr K. Aus einem gewissen „Trotz“ heraus jedoch habe er es nicht vorgezogen, dieses Lokal zu verlassen, sondern blieb weiterhin mit seinem Freund in der Gaststube sitzen. Nach einem weiteren Zusammenstoß mit dem Kellner und schließlich mit dem Chef des Hauses wurde er aus dem Lokal verwiesen und mit Lokalverbot belegt. Vor dem Wirtshaus stehend versuchte er noch über andere Gäste, seinen Freund, der nach wie vor im Wirtshaus saß, dazu zu bewegen, doch mit ihm woanders hin zu gehen, wenn er sich schon nicht mehr für ihn beim Wirt einsetzte. Den Freund habe das anscheinend kalt gelassen, er ließ ihm nur ausrichten, daß er mit ihm – Herrn K. – nichts mehr zu tun haben wollte. Nun stand er da – mitten in der Nacht alleine auf der Straße in der großen Stadt, in der er sich nicht auskannte, und vor allem konnte er ohne seinen Freund natürlich nicht, wie bisher üblich, in dessen Wohnung übernachten, weil er keinen Schlüssel dazu hatte. Er beschloß trotzdem, zur Wohnung des Freundes zu gehen, einerseits, weil das der einzige Weg war, den er kannte, andererseits, weil er insgeheim hoffte, sein Freund würde es sich doch noch anders überlegen, nachkommen und ihn nicht allein lassen. Doch er hatte sich getäuscht, der Freund kam bis zum Morgen nicht. So blieb ihm nichts anderes übrig, als nach einer durchwachten Nacht im Freien mit dem ersten Zug wieder zu sich nach Hause zu fahren, was er dann auch tat. Ende der Geschichte.
Überlegungen
Viele Dinge waren mir während seiner Schilderung durch den Kopf gegangen. Ich wollte ihn jedoch absichtlich nicht unterbrechen oder seinen Redefluß bremsen, erstens weil es ihm sichtlich gut tat, diese „blöde“ Geschichte loszuwerden und mit ihr auch etwas von der Wut über seinen Freund oder vielmehr noch über sich selbst; und zweitens weil er alles so erzählen sollte, wie er es erlebt hatte, und nicht durch meine Zwischenfragen oder -bemerkungen irritiert etwas weglassen oder umändern sollte.
Das zwiespältige Verhältnis zu seinem Freund war mir von Anfang an beim Zuhören rätselhaft: einerseits einen Menschen als seinen Freund zu bezeichnen, den er eigentlich kaum kannte, den er meistens nur im betrunkenen Zustand traf und den er selbst nur negativ beschrieb, unter anderen auch mehrmals mit der Bezeichnung „Vollkoffer“ betitelt, andrerseits trotzdem mit einem solchen Menschen zu tun haben zu wollen, ja sogar nach all den beschriebenen Aktionen, wo ihn dieser mehrmals kläglich im Stich gelassen und ihm sogar mitgeteilt hat, daß er nichts mehr von ihm wissen wolle. Zu allererst fiel mir ein, daß ich einen derartigen Menschen niemals zu meinen Freunden zählen und ihn auch keinesfalls mit dem Wort „Freund“ bezeichnen würde. Doch ich hatte auch das Gefühl, daß es ihm wichtig war, zumindest irgend jemand als seinen Freund zu bezeichnen, um nicht gänzlich als Einzelgänger (mit negativem Beigeschmack) dazustehen, um zu sagen „ich habe Freunde“ und „ich bin nicht der komische Einzelgänger, für den mich – so glaube ich zumindest – viele halten“. Diese Problematik, nämlich zu glauben, ein Außenseiter, ein Einzelgänger und komisch zu sein, oder vielleicht vielmehr die Angst davor, hatte er schon mehrmals erwähnt. Er schaffte es auch bei mir wieder, daß ich mir spätestens bei der Passage, wo er im Stammbeisl seines Freundes offensichtlich beim Bezahlen betrogen wird oder ein sonstiger Irrtum vorliegt, sein Freund jedoch, der den „Hausbrauch“ und vor allem die Kellner und Chefleute kennt, ihm mit keinem einzigen Wort zu Hilfe eilt, dachte: „so etwas lasse ich mir von einem Menschen, der sich mein Freund nennt, sicher nicht gefallen. So blöd kann man doch nicht sein, daß man erstens mit diesem Menschen überhaupt noch etwas zu tun haben will und zweitens sogar noch mit ihm zusammen in dem dubiosen Wirtshaus sitzenbleibt.“ Herr K. vermittelte mir genau das Gleiche wie wahrscheinlich schon vielen Menschen, die vor mir mit ihm zu tun hatten. Die logische Reaktion dieser Menschen war vermutlich zu sagen „du spinnst, du mußt doch deppert sein, wenn du dir so etwas gefallen läßt,….“ und somit hat sich sicher schon oft folgender Kreislauf geschlossen: er hat zu wenig Selbstvertrauen, zweifelt an sich selbst, ist unsicher und wird angeblich von den Menschen um ihn aufgrund seines Verhaltens für „blöd“ angeschaut. Während er einerseits darüber klagt, daß man ihn für „blöd“ anschaut und ihn auch so behandelt, bestätigt er entweder in Worten und/oder in Taten genau das bzw. vermittelt den Eindruck, eben „blöd“ zu sein und sagt es auch dezidiert, um sich später wieder darüber unter dem Motto „die Welt ist so grausam zu mir“ zu beschweren und selbst zu bemitleiden usw.
Auch rein rechnerische Gedanken hatte ich: es könnte zum Beispiel so gewesen sein, daß der Wirt, nachdem Herr K. ja kein Stammgast war, den er vielleicht hätte einladen wollen, zum Geburtstag der Chefin mit ihnen zu essen, sich dieses Essen eben hätte bezahlen lassen wollen. Er könnte sich einerseits geschämt haben, das Herrn K. mitzuteilen und andererseits gehofft haben, daß Herr K. im bereits etwas alkoholisierten Zustand ohnehin nicht mehr so genau nachrechnen und damit merken würde, daß er gar nicht so viel Bier und Schnaps, wie sie auf der Rechnung standen, getrunken hatte. Es könnte auch sein, daß ein Teil der Zeche von seinem sogenannten Freund, der ja offensichtlich schon ausgiebig betrunken war, stammte…. . Andererseits waren die zwei- oder dreihundert Schilling mehr oder weniger ja nur das sichtbare Problem, gewiß nicht das eigentliche, das bei Herrn K. sogar Selbstmordgedanken aufkommen ließ. So beschloß ich, vorerst eine mathematische Lösung des Problems nicht ins Auge zu fassen.
Soviel ich auch über diese eher dubiose Geschichte des Herrn K. nachdachte, sie blieb immer voller Ungereimtheiten. Vielmehr schien mir die vorrangige Funktion der Erzählung zu sein, (einmal mehr) Herrn K.’s „Blöd-Seins-Theorie“, die damit verbundene Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit und auch der Wunsch nach Akzeptanz dieser Strategie mit größter Deutlichkeit und Nachdruck (Selbstmordgedanken) an den Mann/Frau zu bringen. So versuchte ich, in erster Linie diese Theorie meinen weiteren Überlegungen und eventuellen Interventionen zugrunde zu legen und nicht die Geschichte, in die sie verpackt war. Wie bereits oben erwähnt wollte ich, wenn möglich, nicht in dieselbe Kerbe schlagen wie wahrscheinlich die meisten Menschen, die bisher mit Herrn K. und seiner Theorie konfrontiert waren und es offensichtlich damit nicht geschafft hatten, diesem derzeit noch stabilen, aber vielleicht schon auf dem Weg zur Eskalation befindlichen System einen Impuls zu geben, der eine positive Veränderung und damit vielleicht eine Unterbrechung des beschrieben Kreislaufs zur Folge gehabt hätte.
Nachdem so viele Dinge für mich noch nicht klar oder zumindest nur Vermutungen und Interpretationen meinerseits waren, wollte ich zuallererst, nachdem Herr K. mit seiner Erzählung geendet hatte, zu den Punkten, die mir für meine weiteren Schritte wichtig erschienen, genauer nachfragen. Ich fragte deshalb Herrn K., ob er einverstanden wäre, wenn ich ihm die ganze Geschichte in Kurzfassung noch einmal erzählte, um sicher zu gehen, daß ich zumindest die wichtigsten Punkte richtig verstanden hätte. Mit dieser Vorgehensweise wollte ich erstens Mißverständnisse ausräumen, zweitens die Geschichte auf die wesentlichen Punkte reduzieren und drittens vorsichtig Gedanken oder Interpretationen mit einflechten, um zu sehen, wie Herr K. darauf reagiert, ob er sie bestätigt oder ablehnt. Ich hatte mir auch vorgenommen, besonders auf die nonverbale Kommunikation achtzugeben. Herr K. war einverstanden. Ich bat ihn zuvor noch, mich nicht zu unterbrechen, um zu verhindern, daß er sich bei den heiklen Punkten immer zu rechtfertigen oder Dinge gleich zu beschwichtigen versucht etc.
So fasste ich seine Erzählung kurz zusammen: es gäbe da einen Freund, den er von Konzerten und Saufereien kennt. Dieser Freund hätte sich schon oft nicht gerade als würdiger Freund erwiesen, trotzdem trage ihm Herr K. sein Versagen nicht lange nach und versuche es immer wieder mit ihm, läßt ihn nicht fallen und steht nach vielen Enttäuschungen noch immer zu ihm, hat eben Verständnis für Menschen, die viele Schwierigkeiten haben. So versuchte ich ihm das Gefühl zu vermitteln, daß ich seine menschlichen Qualitäten sehr wohl schätzte. Ich merkte schon, als ich Herrn K. anschaute, daß er etwas verlegen wurde, sich aber auch geschmeichelt fühlte und eigentlich etwas sagen wollte, vielleicht, daß man eben mit den Menschen, die sich aus irgendwelchen Gründen eben schwer tun (also auch mit ihm selbst!) Geduld und Nachsehen haben müßte, denn sie könnten ja nichts dafür. Ich ließ ihn aber nicht zu Wort kommen und erzählte weiter, daß er sich eben mit diesem Freund getroffen hätte und zusammen mit ihm in ein Gasthaus gegangen wäre. Dort hätte die Chefin Geburtstag gehabt und deshalb alle Gäste zum Essen eingeladen. Er selbst sei jedoch nicht willkommen gewesen, das habe man ihn von Anfang an spüren lassen, und deshalb wollte man ihm erst nach Intervention seines Freundes auch etwas zu essen geben. So war er schon wieder – wie immer – der „Blöde“. Diese Erfahrung – als der „Blöde“ erkannt und behandelt zu werden – kenne er aus seinem ganzen Leben nur schon zu gut. Als er bezahlen wollte, hat man ihn betrogen, weil man gemerkt hat, daß man das mit ihm schon machen könnte, ja daß er es vielleicht nicht einmal merken würde. Auch sein Freund kann es sich leisten, mit ihm umzuspringen, wie es ihm gerade paßt; und er – Herr K. – läßt es sich gefallen, weil er eben so „blöd“ ist. Ja, er kann ja gar nicht anders! Nur er leidet eben furchtbar darunter. Das Hauptproblem seien also nicht ein paar hundert Schilling, die er zu viel bezahlt hätte oder ähnliches, sondern der für ihn unerträgliche Zustand, immer als „Trottel“ behandelt zu werden. Herr K. bestätigte meine Sicht der Situation vollkommen. Ja, er verstärkte sie sogar noch, indem er erwähnte, daß die Menschen einfach derart grausam sind und Leute, die es aufgrund ihrer schlechten Voraussetzungen ohnehin schon schwer genug hätten – so wie er – ausnützen und wie einen Trottel behandeln. Darunter leide er am meisten, sei jedoch nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.
Ich hatte das Gefühl, dass der Haß auf die Menschen, die ihn wie einen „Dodel“ behandeln, auch der Grund für einen Suizid oder zumindest dessen Androhung sein könnte. Auf diese Weise könnte man diesen Menschen „eins auswischen“, ein schlechtes Gewissen machen, sich für die unmenschliche Behandlung durch sie rächen. Eigentlich hielt ich den Zeitpunkt nun für gegeben, um die Selbstmordgedanken abzuklären zu versuchen und sie nicht gänzlich unter den Tisch fallen zu lassen, obwohl ich rein gefühlsmäßig nicht wirklich Angst davor hatte und nicht ernstlich glaubte, er würde sich umbringen wollen. Doch kam ich mit drei unterschiedlichen Überlegungen nicht klar:
Erste Version: angenommen er wäre tatsächlich „zu blöd zu allem“ (wie er es selber mehrmals formulierte) und er würde wirklich von den Menschen um ihn wie ein „Dodel“ behandelt, dann wäre die Reaktion seiner Umwelt logisch, ihr Benehmen adäquat und dafür würde er sie mit seinem Suizid sanktionieren. Es wäre eine positive Rückkoppelung: er benimmt sich blöd (warum auch immer) – man behandelt ihn wie einen „Blöden“, steigert dadurch seine Überzeugung, blöd zu sein. Je überzeugter er ist, blöd zu sein, um so blöder wird er sich benehmen – die Umwelt reagiert adäquat auf das gesteigerte blöde Benehmen und verstärkt so seine Überzeugung immer mehr und mehr… . Er sieht im Selbstmord eine Ausstiegsmöglichkeit aus diesem eskalierenden System, macht seinem Leiden – so glaubt er – ein Ende und bestraft die, die ihm seine Situation durch ihre Reaktion immer wieder vor Augen geführt haben mit schlechtem Gewissen, Schuldgefühlen, Vorwürfen,… Er hätte also zwei Fliegen mit einer Klappe erledigt.
Die zweite Version wäre: seine scheinbare Überzeugung, zu blöd zu allem zu sein, ist eine Konsequenz und eine Rechtfertigung für (s)eine paranoide Idee, von allen wie ein Trottel behandelt zu werden.
Die dritte Version: er ist weder blöd oder unfähig, noch wird er ungleich öfter als andere Menschen wie ein „Trottel“ behandelt, er hätte jedoch mit seinem Symptom der Unfähigkeit eine wunderbare Ausrede, ein stichhaltiges Alibi für alle Angelegenheiten und Tätigkeiten, die er nicht machen will, sich nicht machen traut, die zu anstrengend, zu riskant, zu mühsam, zu verantwortungsvoll, zu unangenehm usw. sind. Gegen Dummheit oder Unintelligenz – wie er es manchmal nennt – ist eigentlich noch kein Kraut gewachsen, es ist also nicht abzuändern und entbindet seinen „Inhaber“ jeglicher Verantwortung für Worte und Taten, die seinen „Intelligenzhorizont“ überschreiten; er kann ja nichts dafür!
Alle drei Möglichkeiten waren denkbar, jedoch schien mir die dritte die naheliegendste zu sein, aus vielerlei Gründen: ich hatte noch nie wahrgenommen, daß er „zu allem zu blöd“ sei, ich hatte eigentlich überhaupt nicht den Eindruck, daß er „blöd“ sei. Er konnte sich sehr wohl ungeschickt oder schwerfällig bei der Arbeit anstellen, was man bei flüchtiger Beobachtung sicherlich als Unfähigkeit interpretieren könnte. Bei uns rief jedoch dieses Verhalten viel eher Assoziationen wie „Unwillen“, „Fehlen von Motivation und (Denk-) Bereitschaft“ und auch „Provokation“ hervor. Und es wäre eher verwunderlich, wenn er bei uns völlig andere Empfindungen, Einschätzung und Reaktion auslöste als bei allen anderen Menschen, mit denen er zu tun hat. Natürlich wäre es auch möglich, daß die Reaktionen seiner Umwelt auf „Unwillen“ oder aber auf „Unfähigkeit“ kaum oder gar nicht unterscheidbar waren. Auch die dritte Überlegung würde seiner Unintelligenz aufs heftigste widersprechen, denn ein unintelligenter Mensch könnte sich niemals eine so intelligente
(Über-) Lebensstrategie ausdenken. Ich hatte auch nicht den Eindruck, daß er akut selbstmordgefährdet sei, zumal er einerseits eher wütend als verzweifelt wirkte, andererseits war das Erlebnis, das ihn zum Ausklinken bzw. zum Selbstmord als Affekthandlung bewegen hätte können, schon wieder einige Tage her und die damit zusammenhängende Aktualität und Emotionalität schon etwas abgeklungen. Die zweite Version hielt ich unter anderem für nicht so wahrscheinlich, weil noch in keinem Wort von bisherigen Betreuern, in Gutachten oder eigenen Erlebnissen mit Herrn K. paranoide Gedanken erwähnt worden waren oder eine Rolle gespielt hatten.
Ich wollte in dieser Sitzung zumindest noch die Angelegenheit mit der Suizidgefahr abklären, mit der „Blöd-Seins-Theorie“ wollte ich mich dann in den folgenden Sitzungen auseinandersetzen. Um abzuklären, ob ich mit meiner Vermutung vom Selbstmord als Rache an den Menschen, die ihn wie einen „Dodel“ behandeln, und als Erlösung von seinem Leiden unter diesem Zustand recht hatte oder ob es einen anderen Grund gäbe, fragte ich ihn vorsichtig, was sich denn durch seinen Selbstmord an der bisherigen Situation verändern würde. Als Antwort bekam ich in etwa meine zuvor beschriebenen Vermutungen: er könnte auf diese Weise den vielen Menschen, die ihm täglich das Leben schwer machen, ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle machen, ihnen ihr grausames Verhalten heimzahlen. Ich fragte nach, welchen Wert denn sein Leben für ihn hätte, wenn er es wegschmeißt, um ein paar Menschen, die er sowieso geringachtet, ein schlechtes Gewissen zu machen, und woher er die Sicherheit nähme, auf diese Weise sein Ziel zu erreichen. Er dachte lange nach und teilte mir dann mit, daß ich eigentlich recht hätte: diese Menschen wären es nicht wert, sich ihretwegen umzubringen und außerdem sei er ohnehin zu feig dazu. Ich war froh um diese beruhigende Information. Sie bestätigte auch meinen Eindruck. Nachdem Herr K. immer wieder erwähnt hatte, daß er sich auch selbst als „zu blöd zu allem“ sehe, war mir nicht ganz klar, warum er dann die Menschen, die auf diese Gegebenheit adäquat reagieren, so haßte, daß er sogar Selbstmord als Konsequenz erwogen hatte. Es war ja logisch, daß die Umwelt auf jemanden, der so war, wie er sich selbst beschrieb, so reagieren mußte, wie er es von seinen Mitmenschen beschrieb. Konnte er die immer wiederkehrende Bestätigung dieser Tatsache nicht ertragen, oder fühlte er sich doch ungerecht behandelt? So fragte ich ihn zum Schluß der Sitzung noch, mit welchem der beiden Punkte wir uns gemeinsam in den nächsten Gesprächen zuerst auseinandersetzen sollten: mit der Tatsache, daß er einfach blöd und unintelligent wäre oder mit der, daß die Menschen um ihn herum so grausam und gemein reagieren? Ich hatte diese Frage nicht unabsichtlich so provokant gestellt, denn ich wollte dadurch erreichen, daß er sich endlich deklarieren mußte, ob er sich selbst wirklich als „blöd“ einschätzt (damit wäre die Reaktion seiner Umwelt eine logische und unverwerfliche), was ich mir jedoch nicht erklären könnte, oder ob er in Wirklichkeit gar nicht so „blöd“ sei, jedoch von seiner Umwelt ungerechterweise so wahrgenommen würde und sein Verhalten vielmehr durch fehlendes Selbstvertrauen und Unsicherheit etc. bestimmt war. Er antwortete mit leidgeprüfter Miene, daß er froh wäre, wenn’s denn nur so wäre, wie zuletzt beschrieben; tatsächlich wäre er davon überzeugt, wirklich so blöd zu sein. Das sei für ihn die Problematik. Diese ohnehin schon schwierige Situation würde daher noch erschwert, daß „Unintelligenz“ etwas sei, was man nicht verändern, verbessern oder reparieren könne, wie das bei vielen andersgearteten Problemen gehen würde. Er würde sich liebend gern darum bemühen, an seiner üblen Situation zu verändern, aber Intelligenz könne man eben nicht vermehren, vergrößern oder was auch immer. So sei er zur Passivität und zum Ertragen dieses bedauernswerten Zustandes verurteilt. Ich bemühte mich, ihm zum Abschied noch mein Mitgefühl für sein schweres Los auszudrücken, bestätigte seine Aussagen über die Irreparabilität solcher Defizite und bat ihn auch darum, sich auf keinen Fall dazu hinreißen zu lassen, sich trotz der Aussichtslosigkeit seiner Situation damit zu beschäftigen, ob und wie man nicht doch noch etwas machen könnte. Er solle sich vielmehr darum bemühen, diesen Zustand bis zum nächsten Termin in zwei Wochen auf keinen Fall zu verändern; das sei unbedingt notwendig für die weitere gemeinsame Arbeit an diesem Problem. Noch in der Tür stehend, beteuerte er, daß ihm das äußerst schwer fallen würde, weil er eben so gerne eine positive Veränderung herbeiführen wollte. Schlußendlich versprach er, sich schweren Herzens an diese Auflage zu halten.
In der Nachbesprechung mit meiner Kollegin versuchten wir beide uns noch mal diese „Blöd-Seins-Theorie“ zu vergegenwärtigen:
Nach unseren bisherigen Erfahrungen mit Herrn K. stuften wir ihn beide ganz sicher nicht als „blöd“ oder unintelligent ein. Er stellte sich schon oft sehr ungeschickt an (was in unserer täglichen Arbeit nicht unbedingt etwas Außergewöhnliches ist) und erreichte dadurch – was uns eigentlich erst jetzt ein bißchen bewußter wurde – daß wir statt ihm dachten, ihm Verantwortung und Entscheidungen abnahmen etc. Vielmehr jedoch empfanden wir die besagte Erklärung als Grund dafür, daß er – nach eigenen Worten – mit den Anforderungen des täglichen Lebens nicht zurecht kommt, als äußerst intelligent. Wir hatten kaum jemals eine stichhaltigere und lückenlosere Rechtfertigung für eine von der Gesellschaft nicht akzeptierte Lebensform – das heißt z.B. nicht im Berufsleben Fuß gefaßt zu haben, trotz erwachsenen Alters finanziell von öffentlicher Hand bzw. von den Eltern abhängig zu sein u.v.m. – gehört. Wir versuchten, dieser Theorie auf den Grund zu gehen:
Der übliche Weg, Probleme zu lösen, beginnt mit der Einsicht, daß ein Problem erst einmal existiert. Unter Problem verstehen wir meist einen Zustand, eine Handlung, ein Ereignis (Krankheit, Schicksalsschlag, Gesetzesbruch, Auffälligkeit in verschiedensten Formen, Lebens- und Beziehungskrisen, Krieg,…) etc., das betroffene Menschen, Gruppen, Völker etc. daran hindert, in Einklang mit sich selbst, ihrer Ideologie, ihrer Umwelt und der Gesellschaft so weiter zu leben, wie sie es bis dahin getan haben. Es verlangt, entweder sein zukünftiges Leben innerhalb des gesellschaftlichen Normen- und Wertesystems an die neue Situation so anzupassen, daß es diese nicht in Frage stellt oder gar ablehnt, oder sich diesem gültigen System in irgendeiner Form zu entziehen. In letzterem Fall würde man damit jedoch eine Randposition oder gar den Ausschluß aus der Gesellschaft riskieren. Von der Gesellschaft werden deshalb Einrichtungen geschaffen, die Menschen, welche mit dem gültigen Normen- und Wertesystem in Konflikt geraten sind, mit verschiedensten Mitteln z.B. durch Schaffung von vorübergehenden „Ersatzlebenswelten“, Beratung, Therapie etc. helfen sollen, mit diesen veränderten Lebensumständen leben zu lernen und sich möglichst wieder zu rehabilitieren und in dieses System zu integrieren. Problemlösung bedeutet demnach, einen gangbaren Weg zu finden, der trotz veränderter Ausgangsposition einen – wenn möglich für den Einzelnen lebenswerten – Verbleib innerhalb des gesellschaftlichen Normen- und Wertesystems bzw. ein zukünftiges („harmonisches“) Zusammenleben von Gesellschaft und Individuum ermöglicht bzw. anstrebt. Oft steht man jedoch spätestens dann vor der schwer zu beantwortenden Frage, wessen Problem das gegenwärtige nun eigentlich sei: das Problem dessen, der die „Auffälligkeit“ zeigt, der mit den Normvorstellungen seiner Umwelt (=Gesellschaft) bricht, der sich anders verhält, als man es von ihm erwartet bzw. erhofft, oder das der Gesellschaft, die nicht flexibel genug und in der Lage ist, mit diversen Eigenarten von Menschen zurechtzukommen, deren System dadurch in Frage gestellt, bedroht oder verunsichert ist, bei dem vielleicht gerade an einer ohnehin offensichtlichen Schwachstelle gerüttelt wird? Diese Fragestellung macht vor allem einen großen Unterschied in der Motivation für eine Problemlösung, und immer wieder kommt es zur skurrilen Situation, daß von jemandem erwartet wird, daß er ein Problem löst, das eigentlich ganz jemand anderer hat und das dadurch (zumindest für den Betroffenen) unlösbar wird, denn jeder kann nur sein eigenes Problem lösen! Natürlich ist es leichter, von einem einzelnen Individuum oder einer kleinen Gruppe Veränderung oder Anpassung zu verlangen als von der Gesellschaft allgemein, was auch sehr oft praktiziert wird. Um also einen Weg zur Problemlösung zu suchen, ist es nach der Einsicht, daß ein Problem überhaupt einmal existiert, unerläßlich dieses transparent zu machen, vor allem eben zu klären, wessen Problem es ist und wer daran interessiert ist, es zu lösen (ist ein „Beziehungsproblem“ – auch zwischen Gesellschaft und Individuum – nicht immer ein Problem zweier, nicht das eines einzelnen Beziehungspartners?) um danach nach der oder den Ursachen für dieses zu suchen. Wenn einmal abgeklärt ist, „woran es hapert“, kann man nach Möglichkeiten suchen, diese Ursache zu beseitigen, die Umstände, Einstellungen, Sichtweisen zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern etc.; also Möglichkeiten zur Lösung des Problems suchen. Wichtig scheint es mir jedoch auch, daran zu denken, daß jede Auffälligkeit, Schwierigkeit, Unfähigkeit, Krankheit etc. für den, der darunter „leidet“ eine Funktion erfüllt, eine meist sehr wichtige sogar. Durch die Lösung (=Wegnahme) des Problems entsteht die Notwendigkeit, diese wichtige Funktion durch irgend etwas anderes zu ersetzen. Andernfalls hinterläßt das „weggenommene = gelöste“ Problem ein ungefülltes Loch, eine unerfüllte Funktion, d.h. wenn der Klient keine Möglichkeit findet, wodurch die für ihn so wichtige Funktion (z.B. Zuneigung und Mitleid für Leidende, Abnahme von Verantwortung für „Schwache“,…) entweder ersetzt oder überflüssig wird, ist ein Rückfall in die alte „Auffälligkeit“ oder das Entstehen einer neuen solchen als Ersatz für die verlorene programmiert. Und jetzt kommt der schwierigste Schritt – die Umsetzung der Theorie in die Praxis: mit diesem theoretischen Hintergrund muß eine Handlung, eine Aktivität folgen, anders ist keine Veränderung möglich. Aktivität jedoch ist immer mit Mühe, Zeit- und Energieaufwand, Risiko, Anstrengung etc. verbunden und muß von dem selbst, der das Problem hat, gesetzt werden. Jeder kann seine Probleme nur selbst lösen, er kann sich beraten, unterstützen, aufmuntern und vieles mehr lassen, jedoch den Schritt zur Veränderung kann nur er/sie selbst unternehmen. Dieser Schritt führt unweigerlich zu einem Ergebnis: entweder das Problem ist dadurch vollständig gelöst oder nur zum Teil oder auch gar nicht. Die Situation ist vielleicht zumindest vordergründig sogar verschlechtert. In allen Fällen außer der vollständigen Problemlösung sind weitere Schritte – im Prinzip das gleiche Procedere wie oben beschrieben (Problembewußtsein – Ursachensuche – Lösungsmöglichkeit suchen – Aktion – Evaluation – …) erforderlich. Dieser Vorgang – wie oben in etwas vereinfachter Form beschrieben – begleitet im Großen und Ganzen alle Menschen (die Menschen, die niemals Probleme haben – falls es sie gibt – sind hier natürlich ausgenommen) ein ganzes Leben lang. Das heißt andererseits auch, daß immer wieder große Anstrengung, Mühen, Risiken etc. zur Lösung immer wieder neuer Probleme einerseits und zum Lösungsversuch der immer gleichen „alten“ Probleme – und zwar so weit, wie dies zur Erreichung oder Erhaltung der individuellen Lebensqualität und -zufriedenheit erforderlich ist – von uns verlangt sind, was das Leben nicht unbedingt leichter macht. Einen kleinen Unterschied in der Sichtweise macht lediglich die allgemeine Einschätzung über den Schwiergkeitsgrad, gewisse Dinge zu ändern (z.B. von Drogen loszukommen gilt allgemein als sehr schwierig, ebenso Übergewicht loszuwerden, im Gegensatz etwa zur Lösung des Problems, welches Auto man sich als nächstes kaufen soll,…). In dieser allgemeinen Ansicht gibt es auch akzeptierte unlösbare Dinge – vorausgesetzt man glaubt nicht an die Zauberkunst. Einer dieser unlösbaren „Fälle“ ist sicherlich das Problem der „Unintelligenz“. Jedermann wird es unwidersprochen lassen, daß sich Intelligenz nicht vermehren läßt – wie denn auch? Übersetzt auf Herrn K. bedeutet das allerdings, daß er in der unglücklichen Lage ist, ein Problem zu haben, jedoch in der glücklichen, daß er die Ursache zu kennen meint und in der noch glücklicheren, daß diese Ursache (=Unintelligenz) nach üblicher Ansicht eine unbehebbare ist! Das heißt, daß er die ersten Schritte des Problemlösungskonzeptes erfolgreich absolviert hat, jetzt jedoch beim Schritt „Lösungsmöglichkeiten suchen“ steckenbleibt, denn für ein unlösbares Problem braucht man keine Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Es wäre sogar unklug und auch „unintelligent“ zu glauben, daß man für ein unlösbares Problem eine Lösung suchen könnte. Zusätzlich würde es eine völlige Energievergeudung bedeuten, etwas zu suchen, was es nicht gibt. Das ist aber erst der erste Teil der „Ersparnis“. Der zweite und viel größere Teil des Aufwandes an Zeit, Energie, Risikobereitschaft, Mühe, Arbeit an sich selbst, Rückschläge verkraften zu müssen, Verzicht etc. bleibt einem erspart, wenn sich der nächste, ebenfalls sehr schwierige Schritt der „Umsetzung in die Praxis“ erübrigt.
Die 2. Sitzung
Unklar war uns jedoch, welche Rolle wir nun in diesem System spielten, aus der Sicht von Herrn K. spielen sollten oder selbst spielen wollten. Wir gingen auf jeden Fall davon aus, daß wir überhaupt eine Rolle spielen sollten, denn schon allein dadurch, daß wir mit Herrn K. zu tun hatten, waren wir in gewisser Weise und unvermeidlich in sein System mit hineingezogen.
So überlegten wir einen Weg, der Herrn K. die Möglichkeit geben sollte, sich einerseits seine Taktik bewußt zu machen und auf längere Sicht ein Abweichen von dieser zu ermöglichen, zumal er ja bestätigte, sehr darunter zu leiden und daß ihm viel daran läge, in dieser Angelegenheit etwas zu verändern. Diesen Wunsch wollten wir ernst nehmen. Die tatsächliche Ernsthaftigkeit dieses Wunsches jedoch würde sich für uns erst durch die sichtbaren Bemühungen zur Veränderung bestätigen. Wir hatten jedoch auch das Gefühl, daß die Schilderung seines Empfindens reichlich übertrieben war. Auch unsere bisherigen Erfahrungen mit Herrn K. bestärkten unsere Ansicht, daß er sich also vielleicht nicht gerade überintelligent aber keinesfalls wirklich „zu blöd zu allem“ vorkam, es vor allem auch nicht war und auch nicht so behandelt wurde. Doch eine abgeschwächte Form dieser seiner Theorie würde gewiß im großen und ganzen zur Erreichung des gewünschten Effekts (= nichts verändern zu müssen) führen. So beschlossen wir, nachdem wir verschiedene andere Ideen wieder verworfen hatten, ihn einmal konsequent so übertrieben zu behandeln, wie er sich selbst beschrieb, nämlich wie einen „Volldodel“. Es lag uns daran, daß Herr K. auf diese Weise einmal hautnah erleben sollte, wie es wirklich ist, wenn man wie ein „Volltrottel“ behandelt wird. Dieses Erlebnis sollte jedenfalls – so war es unser Wunsch – einen (Um-) Denkprozeß in Gang bringen, ja provozieren. Wir erhofften uns also, dadurch zu erreichen, daß ihm der Kragen platzt und er sich dagegen wehrt, so behandelt zu werden, „weil so blöd sei er dann auch wieder nicht“, also seine Theorie zumindest relativiert. Ein solches Eingeständnis (sicher nicht vor uns, aber vielleicht vor sich selbst) einer – wenn auch kleinen – „Grundintelligenz“ hielten wir für die weitere Arbeit und vor allem für Herrn K. selbst, seine Entwicklung und seinen Umgang mit seinem Leiden unter dieser besagten „Unintelligenz“ für sehr günstig. Vielleicht könnten wir Herrn K. durch diese „Behandlung“, von der wir annahmen, daß er sie in dieser Form noch niemals erlebt hatte, dazu bewegen, zumindest seine „Blöd-Seins-Theorie“ und vor allem die damit verbundenen Nachteile in vollem Umfang zu spüren und zu überdenken. Ein Abwiegen der Vorteile dieser Theorie gegen ihre Nachteile bzw. ein Aufwiegen der Vorteile einer eventuellen „Nicht – Zu – Blöd – Seins – Theorie“ gegen die Anstrengungen, Mühen und Risiken, die zur Erreichung einer Veränderung in Kauf genommen werden müßten, wären ebenfalls wünschenswerte Effekte. So vereinbarten wir bereits vor dem folgenden Gespräch, ihm alles wie einem „Dodel“ mehrfach und primitivst zu erklären, regelmäßig zu betonen, daß er viele Sachen ja nicht checken, merken oder tun könnte, weil er eben zu blöd dazu wäre, ihn immer wieder dafür zu entschuldigen, daß er keine verantwortungsvollen und schwierigen Aufgaben übernehmen könnte und vieles mehr. Wenn es sich ergebe, wollten wir auch hin und wieder dezent durchklingen lassen, daß und welche Vorteile und Erleichterungen diese Tatsache – eben „blöd“ zu sein – mit sich brächte und was einem Betroffenen dadurch erspart bliebe. Kurz gesagt: wir wollten ihn in einem möglichst krassen Ausmaß spüren lassen, wie es ist, wenn man wirklich ein „Volldodel“ ist und auch so wahrgenommen und behandelt wird. Er sollte dabei vor allem einen Unterschied zu seiner wirklichen Situation merken. (Die Sicherheit für die Annahme, daß die „wirkliche Situation“ anders ist als er sie beschrieb, nahmen wir daraus, daß es eher unwahrscheinlich wäre, wenn ein Mensch durch sein Benehmen, sein Auftreten, seine Eigenarten und eventuellen Auffälligkeiten etc. bei verschiedenen Beobachtern völlig verschiedene Reaktionen auslösen würde. Anders formuliert: wir gingen davon aus, daß Herr K. bei verschiedenen anderen Menschen, die ihn beobachteten oder mit ihm zu tun hatten, größtenteils ähnliche oder idente Reaktionen, Eindrücke, Gefühle usw. ausgelöst hat wie bei uns.) Als zweiter Punkt war es uns wichtig, ihn auch mit der Tatsache zu konfrontieren, daß diese seine Problematik durchaus auch Vorteile hat. Wir hofften jedenfalls, mit unserer Strategie bei Herrn K. etwas in Bewegung zu bringen.
Anfangs der Sitzung stieg Herr K. voll auf unseren oben beschriebenen Umgang mit ihm ein. Er bestätigte uns unsere mitleidsvollen Zugeständnisse seiner Unfähigkeit, ja verstärkte sie sogar manchmal. Er hielt also sehr lange konsequent seine Linie durch und wurde erst nach längerem Gesprächsverlauf merklich nervöser, vor allem dann, als wir seine Unfähigkeit in Angelegenheiten ansprachen, von denen er offensichtlich überzeugt war oder wußte, daß er diese sehr wohl bewältigen könne. Immer stärker konnte man beobachten, daß es in ihm kämpfte und „wurlte“, er ließ sich jedoch nicht dazu verleiten, sich zu verteidigen, zu sagen „das stimmt nicht, so blöd bin ich auch wieder nicht, ich kann auch etwas….“. Es regte sich auf jeden Fall innerlicher Widerstand, es kam etwas in Bewegung. Mit diesem für uns zufriedenstellenden Ergebnis – daß er seine ganze Theorie in einem Gespräch in Frage stellt oder gar über den Haufen wirft, hatten wir uns realistischerweise ohnehin nicht erwartet, das wäre in anderer Richtung besorgniserregend gewesen – brachen wir das Gespräch ab, mit der Aussicht, uns bis zum nächsten Termin zu überlegen, wie er mit dieser Tatsache – seiner Unfähigkeit, von der wir ebenso wie er überzeugt wären – (über)leben könnte. Aber nicht er sollte sich bis zum nächsten Mal den Kopf über mögliche Lösungen zerbrechen, er könnte es vermutlich auch nicht. Wir würden nun das tun, was er sich schon länger von uns gewünscht hatte, nämlich an seiner Statt nach einer Lösung für sein Problem suchen. Wir teilten ihm den nächsten Termin zwar pro forma mit, versprachen ihm jedoch, ihn im Büro abzuholen, um ihn nicht mit derartig schwierigen Aufgaben zu überlasten.
Am Ende dieses Gesprächs waren wir am Ende unserer Konzentration, am Ende unserer „Schauspielkunst“, mit der wir versucht hatten, unser Vorhaben sehr ernst und überzeugend auszuführen und ziemlich fassungslos über die Konsequenz, Hartnäckigkeit und Ausdauer von Herrn K. Sein System stellte sich als überaus beständig und tief verinnerlicht heraus. Insgeheim hatten wir vielleicht doch schon mit dieser Strategie auf einen durchschlagenderen Erfolg gehofft, als es schließlich geworden zu sein schien. Andererseits war uns klar, daß ein System, das sich über vermutlich bereits viele Jahre eingefahren und bewährt hatte, nicht bei den ersten Angriffen, Verunsicherungen oder Zweifel in sich zusammenbrechen würde, zumal es ja eine sehr wichtige Funktion zu erfüllen hatte, für die es offensichtlich (noch) keinen Ersatz gab. Wir hatten jedenfalls einen Impuls geben können, auf den es sicher, ob für uns merkbar oder nicht, eine Reaktion geben würde. Es hätte ohne weiteres auch sein können, daß unser Impuls, der zwar den von Herrn K. formulierten Wunsch nach Veränderung zum Ziel hatte, dessen möglichem unterbewußten oder zumindest nicht ausgesprochenen Wunsch nach Verstärkung des vielleicht in Frage gestellten Systems förderlich war. Auf jeden Fall könnte eine Auseinandersetzung bzw. Überprüfung seines System eine unserer Meinung nach sehr naheliegende Folge des Gesprächs für Herrn K. zu sein. Und eigentlich konnten wir ja gar nicht mehr, als einen Impuls zu setzen, von dem wir uns erwarteten bzw. erhofften, daß dadurch etwas in Bewegung kommt, daß das besagte System dadurch einer Prüfung, Bewährungsprobe oder wie immer man es nennen mag, unterzogen würde, welche wiederum sicher eine Reaktion bringen würde. Diese Reaktion wäre theoretisch in allen unterschiedlichen Nuancen von einer vehementen Verteidigung, Aufrechterhaltung und Stärkung des Systems bis zur völligen Abänderung oder Ablehnung desselben denkbar gewesen.Die 3. Sitzung:
Herr K. kam, obwohl wir vereinbart hatten, daß wir ihn zum nächsten Gespräch im Büro abholen würden, um ihn, den „Unintelligenten“, der zu allem zu blöd ist, nicht unnötigerweise mit dem Merken und Einhalten eines Termins zu überlasten, von selbst schon ein paar Minuten vor dem ausgemachten Zeitpunkt. Nur dadurch schaffte er es sehr geschickt (und intelligent!) zu verhindern, daß wir ihn abholten und auf diese Weise die Theorie, die wir ihn beim letzten Gespräch spüren ließen, zu bestätigen. Wir zeigten uns darüber übertrieben überrascht, so als ob wir es ihm nicht zugetraut hätten. Er grinste etwas verlegen und teilte uns mit, daß so etwas – eben einen Termin zu merken und einzuhalten – nun wirklich (auch) für ihn kein Problem wäre. Bestimmt war ihm in diesem Augenblick und wahrscheinlich auch schon viel früher klar, daß er eben sehr wohl mit der Intelligenz der Durchschnittsbevölkerung mithalten konnte. Wir sahen in diesem Vorgehen von Herrn K. sehr wohl eine Reaktion und eine Mitteilung an uns, die einerseits das Ausmaß seiner „Unfähigkeit“, das wir beim letzten Gespräch als Grundlage genommen hatten, relativierte und andererseits eine vorsichtige Bewegung in seinem System signalisierte.
Wir setzten uns und fragten Herrn K., was wir gemeinsam in der nächsten Stunde machen sollten. Er erzählte uns, daß ihn ein weiteres Erlebnis abermals sehr verunsichert hätte: Es gäbe da einen jungen Menschen, etwa seines Alters, mit dem er einige Zeit in der gleichen Firma gearbeitet hatte. Dieser Mann hätte schon damals das gleiche Problem wie er – Herr K. – gehabt, nämlich er sei zu blöd zu allem gewesen. Dadurch wäre dieser schon damals der „Firmendepp“ gewesen. Die vermutete Ursache dieser „Unintelligenz“ seines Kollegen sei, daß er angeblich im stark alkoholisierten Zustand gezeugt worden wäre – eben ein sogenanntes „Rauschkind“ sei. Aufgrund einer vor allem dadurch verursachten „Lebensunfähigkeit“ sei eben dieser ehemalige Kollege mittlerweile in einer Langzeitstation eines psychiatrischen Krankenhauses gelandet. So die Kurzfassung dieser Geschichte. Warum ihn dies so beunruhigte, begründete Herr K. damit, daß er sich selbst eigentlich als diesem Menschen sehr, sehr ähnlich wahrnähme. Er wäre in der Arbeit ebenfalls ein unfähiger „Dodel“ gewesen (dazu sei vermerkt: Herr K. hat sowohl Volks- und Hauptschule, Polytechnischen Lehrgang und eine anschließende Lehre als Speditionskaufmann samt dazugehöriger Berufsschule und Lehrabschlußprüfung erfolgreich und ohne Verzögerung absolviert), und sein Vater habe ebenfalls immer sehr gern und viel Alkohol getrunken, warum also nicht auch zum Zeitpunkt seiner Zeugung? Es sei außerdem doch irgendwie logisch, daß ein Kind, das im alkoholisierten Zustand gezeugt wurde, dadurch Schaden nehmen bzw. eben unintelligent werden könnte. Diese Theorie und auch die Information über die mißliche Lage seines Bekannten habe er von einer Tante von ihm übernommen. Diese Tante beschrieb er sehr abfällig und tat auch kund, daß er den Kontakt mit ihr ohnehin schon lange auf ein Minimum reduziert hätte, weil diese nur über andere schlecht reden könne und mit ihrem eigenen Leben sowieso nicht zurecht käme. Und trotzdem nahm er ihre Aussagen ernst, glaubte ihr auch, daß es eben mit diesem nämlichen Bekannten tatsächlich – wie er es sagt – „so schlimm geendet hätte“. Nachweise für den Wahrheitsgehalt dieser Geschichte hatte er zwar keine, und doch brachte er seine Angst davor zum Ausdruck bzw. bemühte er sich, uns von dieser seiner Angst davor zu überzeugen, auch demselben „schlimmen Ende“ wie sein Ex-Kollege entgegenzusteuern. Der Grund für diese Angst seien für ihn klar erkennbare Parallelen zu seinem Leben und zu seinen Problemen. Wir deuteten diesen neuerlichen Anlauf, sein offensichtlich aus dem Gleichgewicht geratenes, zumindest jedoch nicht unberührt gebliebenes System noch einmal mit plausiblen Vergleichen und „wahren Gegebenheiten aus dem Leben“ zu untermauern, uns trotz aller Ungereimtheiten, Vorteile, Nachteile, Funktionen etc., die sich in der Diskussion und den Gesprächen mit ihm über diese seine Angelegenheit herausgestellt hatten, von seiner angeblichen Unfähigkeit und „Unintelligenz“ doch noch zu überzeugen. Wir wollten ihm nicht wieder voll auf diese Geschichte einsteigen, es würde nur ein neuerlicher „Aufguß“ der schon mehrmals wiederholten Szenen werden, sondern wir hatten uns vorgenommen, ihm ein solches System, wie wir es glaubten bei ihm zu beobachten, mit all seinen Vor- und Nachteilen beispielhaft (also nicht von ihm persönlich ausgehend, sondern rein theoretisch) zu beschreiben, vor Augen zu führen, ihm sozusagen den Spiegel vorzuhalten. Vor allem wollten wir die unumstritten vorhandenen Vorteile, Energieersparnisse etc. besonders hervorheben, jedoch im positiven Sinne, als Qualität und nicht als Schwäche, Fehler oder ähnliches. Wir hatten doch die Hoffnung, ihm dadurch ein In-Frage-Stellen seines Systems etwas zu erleichtern und dadurch zu ermöglichen, daß sich etwas zu ändern, zu bewegen beginnt. Zur Geschichte seines Ex-Kollegen brachte ich nur meine Verblüffung zum Ausdruck, daß er eine Erzählung, von der er keinesfalls überzeugt war, daß sie überhaupt stimmte, noch dazu von einer Tante, die er als „Tratschweib“, selbst mit ihren Problemen nicht zurechtkommend etc. aburteilte, überhaupt ernst nahm. Ich mutmaßte auch noch kurz darüber, was diese Geschichte wohl für ihn bedeutete. Darauf aber stieg Herr K. ins Gespräch ein, distanzierte sich abermals von dieser Tante und bestätigte meine Zweifel über den Wahrheitsgehalt der Story. Er meinte auch, daß ich möglicherweise recht hätte und er dieser Geschichte eben wirklich nicht allzuviel, vielleicht noch besser gar nichts an Wichtigkeit beimessen sollte, er sei eben so furchtbar unsicher und hätte sich deswegen von der besagten Erzählung, die noch dazu nicht von der Tante direkt, sondern auf dem Umweg über seine Mutter ihm zu Ohren kam, ziemlich aus dem Häuschen bringen lassen. Die Mutter wiederum scheint bei der Entstehung und Aufrechterhaltung seines Systems eine maßgebliche, jedoch derzeit für uns noch völlig ungeklärte Rolle zu spielen. Während dieser kurzen Diskussion entstand meiner Beobachtung nach – nicht zuletzt durch seinen merkbaren Schwenk von der bisher sturen Verteidigung seiner Idee zu einer etwas offeneren Haltung – recht schnell ein ungewöhnlich sachliches und freundliches Gesprächsklima, das ich gleich dazu nützte, um auf das Thema, das wir uns vorgenommen hatten, hin zu lenken. Gerade die gegenwärtige Haltung von Herrn K. – offener und nicht mehr ganz so fixiert wie bisher – schätzte ich als günstige Ausgangsposition dafür ein, ihm unsere Ideen und Gedanken über (s)eine „Blöd-Seins-Theorie“ kurz zu beschreiben, was wir dann auch taten. Durch die neuerliche Auseinandersetzung mit diesem Thema und dadurch, daß wir uns viele Gedanken dazu gemacht hatten und ihm diese auch mitteilten, wollten wir unterstreichen, wie ernst wir seine Probleme und damit auch ihn nahmen – also auch auf emotionaler Ebene eine gewisse notwendige (Arbeits-)Basis schaffen. Besonders hoben wir hervor, daß wir der Meinung wären, daß prinzipiell jeder Mensch gewisse Talente und Qualitäten, Kräfte und Lebensbewältigungsstrategien hat (sonst würde er ja nicht mehr leben!). Der Beschreibung der Theorie legten wir die Annahme zugrunde, daß der oder die Betroffene nicht wirklich unintelligent wäre, sondern daß negative Lebenserfahrungen, große Selbstzweifel, fehlendes Selbstvertrauen und vermutlich viele Enttäuschungen dazu geführt hätten, daß die Angst sehr groß wäre, trotz Bemühung, Einsatz seiner Kräfte und Gedanken doch wieder eine Enttäuschung oder zumindest das Fehlen von Anerkennung erleben zu müssen. Das könnte – über längere Zeit hin – die Entstehung folgender Taktik (bewußt oder wahrscheinlich vielmehr unbewußt) zur Folge haben: Da kein Mensch gerne Enttäuschungen erlebt, erleichtert das Herabschrauben von eigenen Erwartungen das Erreichen der vorgenommenen (leicht erreichbaren) Ziele. Die immer weitere Fortsetzung dieser Spirale würde zur Erwartungslosigkeit sich selbst gegenüber und damit aber auch zur Unmöglichkeit, enttäuscht zu werden, führen. Das beeinträchtigt zweifelsohne die Lebensfreude, erleichtert jedoch mit der Zeit das Bewältigen des Alltages ungemein: alle Eigenverantwortung, selbständiges Denken, schwierige Aufgaben und sehr vieles mehr würden einem abgenommen (wir waren uns zu diesem Zeitpunkt im Gegensatz zu früher schon darüber klar, daß auch wir in diesem System über längere Zeit hinweg vollkommen und eine systemerhaltende Rolle mitgespielt hatten, indem wir ihm sehr viel Verantwortung und Entscheidungen etc. abgenommen hatten, statt ihm gedacht hatten, weil er sich oft hilflos und ungeschickt angestellt hatte etc. …) – andererseits ist man sich selbst klar darüber, kein „Depp“ zu sein,also Reserven in puncto Energie, Intelligenz, Leistungsfähigkeit, Selbständigkeit etc. für den Fall zu haben, daß man diese Reserven in einer schwierigen Situation, die einem ausnahmsweise niemand abnehmen kann oder will, zur Verfügung hat. Was natürlich völlig auf der Strecke bleibt, sind Erfolgserlebnisse und damit verbunden Selbstvertrauen und Sicherheit. Das aber ist der Preis, den es sich offensichtlich lohnt, zu zahlen. Jeder Versuch, seine Intelligenz zu zeigen, ist mit dem großen Risiko verbunden, entweder damit Erfolg zu haben und dadurch die „Reserve“ zu vergrößern oder trotzdem eine Enttäuschung zu erleben, Fehler zu machen. Das wiederum würde an der sicheren „Reserve“ nagen und könnte sie verkleinern oder sogar zerstören. Diesem Risiko könnte man mit besagter Strategie ausweichen – um den Preis des Fehlens von Anerkennung und Erfolg. Die Gewöhnung an diese Situation könnte jedoch nur eine Frage der Zeit sein.
Wir hatten das Gefühl, daß der Teil der Schilderung, in dem es um Erleben von vielen Enttäuschungen und dadurch Angst vor weiterem Versagen und damit verbunden „Kraft-, Intelligenz- und Energierückzug“ ging, Herrn K. sehr traf, vielleicht wirklich seine Situation bewußt machte oder spiegelte. In Worten reagierte er kaum konkret, aber das hatten wir uns auch gar nicht erwartet.
Eine der nächsten Sitzungen
Aufgrund der Vereinbarungen mit den Kostenträgern unserer Einrichtung sind wir verpflichtet, in gewissen Abständen Berichte über die Klienten, ihr Arbeitsverhalten, eventuelle Fortschritte und Zukunftspläne etc. abzufassen. Zu diesem Zweck besprachen wir die Situation in der Arbeit mit Herrn K. Wie sonst auch bei den anderen Klienten fragten wir auch ihn, wie es ihm gehe, was ihm Schwierigkeiten macht und ob er Fortschritte oder Veränderungen bei sich selbst bemerkt hätte etc. Ohne ihn direkt darauf anzusprechen, erzählte er mitten im Gespräch, daß er das Gefühl hätte, sein Selbstvertrauen und seine Sicherheit wären merkbar gestiegen, und dadurch könne er auch besser arbeiten. Über diese Aussage und auch über die im Lauf der weiteren Zeit bemerkbare Verbesserung im Arbeitsverhalten waren wir sehr froh. Eine Veränderung war unübersehbar. Was diese verursacht hatte, werden wir wahrscheinlich nie genau wissen; wir hofften jedoch auch, daß es eine Folge unserer Arbeit, unserer Gespräche, unserer Auseinandersetzung etc. mit Herrn K. gewesen sein könnte. Das Thema „Unfähigkeit/Unintelligenz“ tauchte noch sehr oft und taucht nach wie vor gelegentlich in Situationen oder Gesprächen auf. Der Umgang damit veränderte sich jedoch insofern, daß beispielsweise Herr K. und ich, wenn er mir gerade erklären wollte, daß er irgend etwas, was er sehr wohl vermochte, nicht könne, oder ihm zu einer seiner Aufgaben keine Lösungsmöglichkeit einfiele etc., uns oft nur anschauten – er grinste dann oft ein bißchen beschämt – und erledigte meistens seine Aufgaben daraufhin ordentlich. Manchmal, wenn er offensichtlich tatsächlich – d.h. trotz intensivem Nachdenken – keine Lösung gefunden hatte, betonte er, daß er sich jetzt „wirklich“ nicht mehr auskenne …
Das Ministerium ist Klient
von Bernhard Lehr und Walter Milowiz
Bernhard Lehr: Ich war mit folgendem Fall befasst. Die Familie: Der Vater schwer geschädigt durch eine Zyste im Kopf, Notstandshilfeempfänger (EUR 500,00 pro Monat). Er arbeitete zuletzt vor 5 Jahren, die Firma gibts nicht mehr. Die Mutter hat keine Arbeit, ist Hausfrau, kümmert sich um Kinder und Mann, der nicht dauernd belastungsfähig ist, sie erhält Kinderbeihilfe.
Die Familie lebt in bitterer Armut in einem Haus mit ca. 45 m2 Wohnfläche.
Sozialhilfe – Richtsatzergänzung lehnen sie ab, da diese von ihren Eltern per Regress zurückgefordert würde und sie dadurch mehr Konflikte mit diesen hätten als ihnen lieb ist …
Ich half ihnen dabei, einen Antrag beim Familienhärteausgleichsfonds im entsprechenden Ministerium zu stellen (5 Seiten ausfüllen …).
Das Ministerium schickte ein Antwortschreiben: Herr B solle einen Auszug seiner gänzlichen Versicherungszeiten bringen, einen Nachweis der letzten Arbeitstätigkeit und entsprechende Lohnbestätigungen, Frau B soll ihr (Nicht)Einkommen bestätigen und Herr B soll sämtliche Mehrbelastungen aufgrund seiner Krankheit mit Belegen nachweisen.
Ich dachte an Zynismus des Ministeriums und Ähnliches.
Dann dachte ich an unser Gespräch über große Systeme als Klienten.
Als ob das nicht eh klar wäre, denn wie sonst wäre die Vermittlungsfunktion des Sozialarbeiters zu verstehen. Gleichzeitig merkte ich wie ein Druck in mir abfiel: Klienten wissen oft zu wenig. Klienten muss ich dort abholen, wo sie stehen. Vorher sagen sie halt alles Mögliche und auch Komische. Und ob ich das zynisch empfinde liegt ja nicht unbedingt an deren Absicht!
Am nächsten Tag rief ich im Ministerium an und es entwickelte sich eben so, wie ich annehmen konnte, wenn ich „normal“ mit jemanden telefoniere über eine Sache, von der die betreffende Person als Vertreterin der Einrichtung noch viel zu wenig weiß. Anfangs kühl, bedankte sie sich zum Schluss über meine Hilfe, damit sie dieser Familie helfen wird können.
Eine Krankenkassenbestätigung und eine vom Arbeitsmarktservice sowie ein kleiner Bericht von mir mit Kosteneinschätzungen und Vorschlägen werden reichen.
Was hat mir geholfen? Die Umettikettierung von Ministerium zu Klient und die nächste dazugehörige Überlegung: Was tu ich bei einem Klienten beim Erstkontakt? Von einem Ministerium erwarte ich, dass es alles weiß, von einem Klienten nicht.
Walter Milowiz: Jedenfalls scheint die Idee, dass auch Institutionen Klienten sind (nämlich insoferne sie „Gegenübers“ des „identifizierten Klienten“ sind), gar nicht so sehr Allgemeingut zu sein. Besonders interessant wird es ja dann noch, wenn ein solcher Klient auch noch über meinen Job entscheidet: Der „Arbeitgeber“. Die meisten Leute denken ja, daß der über seinen „Auftrag“ bestimmt, was sie zu tun haben: Gute Berater müßten aber wohl eher ihren Auftraggebern auch helfen, daß das richtige geschieht, oder? Was würdet Ihr von einem Automechaniker halten, der, wenn ich sage: „Der Wagen macht so ein komisches Geräusch, wechseln Sie mal das linke Hinterrad!“, einfach das linke Hinterrad wechseln würde? Und was von einem, der antworten würde: „Darf ich das mal ausprobieren?“, eine kurze Probefahrt machen würde und dann – eventuell nach Rücksprache mit mir – die Ventile einstellt, so daß dann das Geräusch nicht mehr zu hören ist?
Natürlich wird es schwierig, wenn ich sage: „Aber es gibt ein Gesetz, das sagt, dass sie das linke Hinterrad wechseln müssen!“ Wenn man da keinen Ausweg findet, dann macht man sozusagen unfreiwillig irgendetwas, was ich allerdings nicht als Sozialarbeit bezeichnen würde. Ich glaube, niemand braucht sich zu schämen, wenn er, um seinen Job nicht zu verlieren, auch mal Unsinn macht.
Man kann es offenbar nicht oft genug sagen (und auch sich selbst daran erinnern): Wenn wir hilfreich sein wollen, dann müssen wir allen Parteien ihre Existenz in gleicher Weise zugestehen, können nicht erwarten, daß Forderungen zu stellen, die jemand nicht schon erfüllt, nützlich und hilfreich ist. Manchmal, wenn man der Stärkere ist, kann man ja etwas durchsetzen, aber normalerweise ist ganz klar die kooperative Basis die kreativere und erfolgversprechendere, und kooperativ kann ja wohl nur heißen, daß man davon ausgeht, daß jeder Beteiligte, jede beteiligte Partei, also auch eine Instituion oder die Welt, eigentlich schon tut, was ihr zumutbar ist.
Manchmal braucht es dazu eben eine kleine systemische Kehrtwendung …
Die Frage nach Ausnahmen oder der „Paradevater“
von Renate Fischer
Ein anderer Mietrückstand, eine anderer Ausschnitt einer Lebensgeschichte: Herr W., 39 Jahre alt, eine schreckliche Kindheit hinter sich, vorbestraft, geschieden, mit einem Einkommen, dass aufgrund seiner Alimentationsverpflichtungen weit unter dem Existenzminimum lag. Er war mit seiner Erzählung gerade am Tiefpunkt seines Lebens angekommen, als ich ihn danach fragte, wie er so eine Situation nur aushalten könne und wie es gekommen sei, dass er sich nicht schon längst von der nächsten Brücke gestürzt habe. Einigermaßen überrascht und aus dem Konzept gebracht, begann er nachzudenken und plötzlich wurden seine Gesichtszüge weich und ihm fiel seine kleine uneheliche Tochter ein. Ihr wollte er ein guter Vater sein. Sie sollte es einmal besser haben. Für sie würde er auch in Zukunft weiterkämpfen und war bereit, alles daran zu setzen um ein Vorbild für sie zu werden und ihr zu zeigen, dass man niemals aufzugeben brauche. Wir überlegten gemeinsam, wie wohl so ein Parade-Vater aussehen sollte und welche der positiven Seiten wohl realistisch gesehen von ihm verwirklicht werden könnten. Mittlerweile hat Herr W. seine Mietzahlungen großteils wieder im Griff, ist dabei eine Ausbildung nachzuholen und sein Leben in neue Bahnen zu lenken. Ab und zu gibt’s einen „Rückfall“, seine finanzielle Situation ist immer noch schlecht, die Fixkosten immer noch fast so hoch wie sein Notstandshilfenbezug und trotz Wechsel in eine günstigere Wohnung und Verzicht auf jeglichen „Luxus“ wie Telefon, Telekabel, neues Gewand usw. wird sich ohne einen gut bezahlten Job nichts dran ändern. Und doch scheinen seine Alarmglocken nun früher zu läuten, sodass er größere Katastrophen immer noch rechtzeitig abwenden kann. Sein Ziel hat er auch ein Jahr nach unserem ersten Gespräch noch vor Augen, der Kontakt zur Tochter ist gut und scheint ihm nach wie vor Kraft und genug Motivation zu geben, seinen Weg weiterzugehen.
Gabi: Die „einzige Vernünftige“
von Kurt Sattlegger
Gabi wurde mir von den Kolleg*innen, die bislang mit ihr zu tun hatten, als zuverlässiges Mädchen beschrieben, mit der etwas anzufangen sei. Sie hat nach einer kooperativen Mittelschule – einem Mittelding aus Hauptschule und Gymnasium – (sehr gutes Zeugnis), die Handelsakademie (eine Wüste aus „nicht Genügend“) und danach den Polytechnische Lehrgang (gerade noch positiv) besucht.
Ihre Eltern stammen aus Rumänien, sie ist aber in Österreich aufgewachsen.
Ihr Berufswunsch war Bürokauffrau, weil dieser Beruf im Rahmen der Maßnahme aber nicht ausgebildet werden darf (AMS-Vorgabe), ist sie als Speditionskauffrau gemeldet – alle anderen verwandten Lehrberufe (einschließlich Bürokauffrau) stehen ihr damit offen.
Der Erstkontakt mit ihr hinterließ mich ratlos, aber neugierig. Ich nahm sie als sehr zurückhaltend, aber aufmerksam war. Sie sagte nie etwas Unnötiges, alles war gut überlegt und knapp. Dabei sprach sie mit weicher, ein bisschen kindlicher Stimme. Letztere kontrastierte für mich mit dem Gesamteindruck eines unglaublich reifen, überlegten, niemals scherzenden oder flapsigen, stets warmherzig blickenden 16-jährigen Mädchens.
Ich sagte also zu meinem Kolleg*innen: „Bei der blick’ ich nicht durch.“
Ich hielt es in diesem Fall für angebracht selbst auf Praktikumssuche zu gehen, weil ich nicht den Eindruck hatte, dass sie sich am Telefon optimal präsentieren kann – trotzdem hatte auch sie gleichzeitig den Auftrag, sich zu bewerben.
Nach ein paar Tagen fand ich eine interessante Praktikumsstelle in einer Spedition und ich gab ihr telefonisch den Auftrag, per Internet zu überprüfen, ob die Firma für sie gut erreichbar ist. Prompt kam per SMS ein „Ja“. Fein, ich führte mit der Firma die weiteren Verhandlungen, die aber abgebrochen wurden als mir Gabi am nächsten Tag telefonisch mitteilte, dass sie die Stelle nicht antreten konnte, weil sie in Wien bei ihren Freund und nicht mehr bei ihren Eltern in Niederösterreich wohnte.
Eine Besprechung brachte die Details an den Tag: mit den Eltern zerstritten, die stritten ununterbrochen miteinander, sie eben seit einigen Tagen beim Freund.
Nach etwa 10 Tagen gelang es mir, eine Praktikumsstelle in Wien zu finden, Gabi trat den Dienst an. Nach etwa einer Woche gab es ein erstes ausführliches Gespräch mit ihrem Ausbildner mit gemischter Bilanz: Gabi sei sicherlich geeignet für den Beruf und habe gut gestartet. In letzter Zeit habe es aber Klagen über ihr mangelndes Engagement gegeben. Gabi berichtete Ähnliches oder zumindest Komplementäres: zunächst war sie extrem erfreut über das gute Betriebsklima und die freundliche Aufnahme, dann tat sie sich schwer, weil man sich zu wenig um sie kümmere, ihr zu wenig zeige.
Die Arbeit an dieser Situation fand nicht mehr statt. Das Praktikum wurde abgebrochen, weil Gabi wieder bei ihren Eltern wohnte. Einige Tage reiste sie zwar von dort zur Firma an, aber die 2,5stündige Anreise mit mehrmaligem Umsteigen konnte nicht aufrechterhalten werden.
Es begannen eine längere erfolglose Praktikumssuche und der Beginn des systemisch orientierten Coachings – das heißt der Versuch, verschiedene Techniken (z.B. zirkuläres Fragen) und Sichtweisen (gegenseitige Bedingtheit, Zirkularität, Lösungsfokussierung) bewusst in der Praxis anzuwenden.
Bislang war ich Problemen, die offensichtlich aus schwierigen familiären Verhältnissen resultierten, relativ machtlos gegenüber gestanden. Natürlich wurde mit dem Teilnehmer darüber gesprochen, es wurden Strategien entwickelt, wie er besser damit umgehen könnte. Auch mit den betroffenen Eltern wurde gesprochen, vielleicht sogar die Jugendwohlfahrt zugezogen. Aber nichts von alldem hatte sich in der Vergangenheit als besonders erfolgreich erwiesen.
Aber jetzt, geschult in systemischen Verstehen und Intervenieren, sollte doch etwas möglich sein. Dabei ging ich davon aus, dass es ja reichte, wenn nur ein Mitglied eines Systems sich ändert, um das ganze System zu verändern.
Beim nächsten Coachingtermin begann ich bewusst mit zirkulären Fragen und es eröffnete sich ein ziemlich umfangreiches Bild von Gabis subjektiv größtem Problem, ihrer familiären Situation. Aus der Bereitwilligkeit und Ausdauer, mit der sie Auskunft gab, schloss ich, dass sie durch die vorhergehenden Gespräche Vertrauen in mich als ihren Betreuer gefasst hatte und auch, dass es nicht viele Erwachsene oder überhaupt Menschen gab, denen sie sich anvertrauen konnte.
Auffällig war auch ihr, besonders für eine 16jährige und unmittelbar Betroffene, hohes Reflexionsvermögen. Zusammengefasst ergab sich das Bild, dass sie es zu Hause nicht mehr aushielt, weil ihre Eltern dauernd miteinander stritten, sie aber auch nicht zu ihrem Freund zurück wollte, weil das Wohnen bei ihm (als Hilfesuchende) ihre Beziehung verschlechterte.
Die Streitereien der Eltern waren gerade wieder einmal eskaliert, der Vater war auf und davon, sie und ihre Schwester hatten ihn dann nächtens gesucht und zur Heimkehr überredet. Der Vater meinte, er wäre die ganzen Jahre nur wegen der Kinder bei seiner Frau geblieben.
Deutlich wurde auch die eigenartige Rolle, die Gabi, jünger als ihre Schwester, übernommen hatte. Sie sei die einzig Vernünftige in der Familie, so Gabi, alle anderen sehr temperamentvoll. Der Vater, zum Teil auch die Mutter und die Schwester würden sie als Anlaufstelle verwenden, um sich über andere Familienmitglieder zu beschweren oder sie aufzufordern für Ordnung zu sorgen.
Die Streitereien zwischen den Eltern gingen schon über viele Jahre, der einzige Grund, warum sie noch nicht geschieden seien, so der Vater gegenüber Gabi, seien eben die Kinder.
Dass man so lange Zeit trotz aller Probleme zusammenbleibt fand ich bemerkenswert und meinte gegenüber Gabi, dass sich ihre Eltern offensichtlich sehr liebten (Umdeutung), sonst wären sie nicht trotz all der Probleme solange zusammengeblieben. Viele andere Paare hätten sich längst scheiden lassen (Wertschätzung, Umdeutung). Außerdem sprach ich zur 16jährigen darüber, wie kompliziert Paarbeziehungen gewöhnlich sind, dass Schwierigkeiten, auch emotional ausgetragene, nichts Außergewöhnliches sind, sondern Normalität.
Inspiriert von Familientherapeutischen Ansätzen (Hellinger) stellte ich mehr Fragen zu ihrer Rolle. Es stellte sich heraus, dass Gabi versuchte, die bessere Mutter zu sein, ihre Mutter erlebte sie als viel zu impulsiv und unüberlegt. Hier teilte ich ihr in Hellinger-Nachfolge die Weisheit mit, dass sie das nicht könne, und zwar nicht weil sie nicht klug oder stark genug sei, sondern weil das einfach nicht ihre Rolle im Familiensystem sei. Sie könne das nicht tragen, zumindest nicht so, dass es zu einer Bereinigung der Lage kommt.
Sie nahm das überraschend interessiert und offen auf. Das und ihr hohes Reflexionsvermögen brachten mich dazu, die Vermutung zu äußern, dass sie Teil des Problems ist. Sie war überrascht und wollte eine Erklärung. Ich teilte ihr meine Sicht der Situation mit: es sei ein eingespieltes System, jeder habe seine Rolle und jeder spiele diese Rolle mit ganzer Energie und vollem Einsatz: der Vater, die Mutter, Gabi (die Schwester ließ ich außen vor, weil sie mir nicht entscheidend erschien). Es sei nach systemischer Theorie davon auszugehen, dass das Problem auf diese Weise – durch mehr desselben – nicht zu lösen sei. Irgendwer müsse irgendwas anderes machen.
Gabi wollte wissen wer und was. Ich meinte z.B. sie und wir erarbeiteten mit zirkulären Fragen Möglichkeiten für ihr Anderssein in der Familie. Nach relativ kurzer Zeit ergab sich eine Möglichkeit, nämlich dass Gabi sich ganz auf die Rolle als Tochter zurückzog, nicht versuchte die Situation zu kontrollieren oder zu regeln. Dann wurden befürchtete Wirkungen besprochen (die Eltern könnten sich sofort scheiden lassen), und relativiert, was relativ einfach war. Wichtig war nach meiner Wahrnehmung auch die Vorstellung, dass sie später in einer eigenen Familie dann die Mutterrolle einnehmen konnte, das machte sie anscheinend glücklich.
Gabi ging also vom Coaching mit dem Bild und dem Vorhaben, Tochter zu sein.
Nach etwa einer Woche traf ich Gabi wieder. Die Eltern hatten sich versöhnt, strahlte sie, dabei habe sie gar nichts gemacht, sich nur einfach um nichts gekümmert.
Erstaunlich für mich war die rasche und anhaltende Änderung in ihrem Familiensystem. Auch nach drei Monaten war die Situation in der Familie stabil.
In einem weiteren Coachingtermin wurde ein anderes Phänomen deutlich, das der Ausbildner in ihrer ersten Praktikumsstelle als „Zurückhaltung und Passivität“ beschrieben hatte. Im Gespräch wurde klar, dass Gabi auch in der Praktikumsfirma versucht hatte, die Kontrolle, ähnlich wie früher in ihrer Familie, über die Gesamtsituation zu haben. Das heißt sie begann die Mitarbeiter genau zu beobachten, sich Gedanken darüber zu machen, was jeder anders oder besser machen könnte usw. Sie suchte auch Fehler bei ihren Vorgesetzten und entwarf im Kopf Szenarien, wie die ihre Arbeit effizienter machen könnten. Das war natürlich hoffnungslos und konnte nur zu Passivität führen. Analog zur „Tochterrolle“ wurde die „Lehrlingsrolle“ plastisch gemacht, sie brauchte nichts zu tun als „einfach“ Lehrling zu sein.
Nach wie vor ging es darum Gabi in Arbeit zu bringen. Da sich Gabi offenbar in ihrer Familie in einem Netz von dysfunktionalen Beziehungen befunden hatte (siehe Milowiz, 1998, S. 5), keimte bei mir die Hoffnung, dass nunmehr mehr Energie für andere Lebensbereiche zur Verfügung stehen würden.
In den etwa 5 Wochen, in denen sie wieder in Niederösterreich wohnte, wurde über einen Kollegen zu zwei Ausbildungsbetrieben Kontakt aufgenommen, die möglicherweise ein Praktikum „mit Aussicht“ zu bieten hatten. Mit beiden arbeiten wir schon jahrelang erfolgreich zusammen. In den quälenden Wochen schafften beide keine Entscheidung und vertröstete meinen Kollegen von einem Tag auf den nächsten. Diese seltsame Blockade löste sich plötzlich als sich die Familiensituation wie beschrieben entspannt hatte. Die erste Firma sagte ab, die zweite zu. Das hielt allerdings nicht, weil man entdeckte, dass Gabi im falschen Bezirk wohnt (Ausbildungsplatz ist eine Gebietskörperschaft und die wollen nur Lehrlinge aus ihren Bezirk). Zurzeit macht Gabi zur vollen Zufriedenheit ein Praktikum.
Fünf systemische Alltagsgeschichten
von M. Höfinger, M. Judy, B. Lehr, W. Milowiz,
Nr. 1 von M. Höflinger
Die Sozialarbeiterin A arbeitet mit dem 49-jährigen Arbeitsassistent B in einem arbeitsmarktpolitischen Projekt. Beide sind Angestellte des Trägers und unterstehen dem Projektleiter. Seit einigen Jahren sind B’s Alkoholprobleme in der ganzen Abteilung bekannt, doch bis auf ein Gespräch, das der Projektleiter vor längerer Zeit mit B geführt hat, noch nie offen angesprochen worden.
In einem Gespräch zwischen der Sozialarbeiterin und dem freiberuflich beschäftigten Teamleiter C äußerte sie Bedenken, da sie in wenigen Wochen mit B gemeinsam eine Gruppe leiten sollte. B rieche nach Alkohol, sei öfters auch so betrunken, dass er mit den KlientInnen nicht mehr richtig sprechen könne und seine frauenfeindlichen Witze und Anspielungen seien ihr sehr unangenehm. Sie habe in ihrer Supervision beschlossen mit dem Projektleiter zu reden, dieser bestehe aber auf der geplanten Zusammenarbeit.
- Intervention von C: Neue Perspektiven einführen, Verantwortung zurückgeben und Handlungsspielraum erweitern.
A verstehe ja B’s Situation, sagt sie zu C. Er habe seit seiner Kündigung als Prokurist einer großen Firma viel an Selbstwert verloren, seine Kinder seien von zu Hause ausgezogen und das Verhältnis zu seiner Frau sei gespannt. B fühle sich in der jetzigen Position unterbezahlt und leide auch darunter, dass sein Fachwissen in der Zusammenarbeit mit ihr und der Psychologin nicht anerkannt würde. Diesen Teufelskreis aus Abwertung – Alkoholkonsum – neuerlicher Abwertung könne sie nachvollziehen.
Im Gespräch wird klar, dass weder A noch C das Problem von B werden lösen können, dass B’s Alkoholkonsum in der Arbeit nicht akzeptiert werden kann und dass A mit B darüber reden soll.
Um A auf das Gespräch mit B vorzubereiten, wird gemeinsam überlegt was genau A tun soll:
· B’s Selbstwert und Eigenverantwortung stärken indem sie z.B. seine Erfahrung als Prokurist (Mitarbeiterführung und Organisation) anspricht.
· B unmissverständlich klar machen, dass sie es nicht will, wenn er nach Alkohol stinkt und
· mit B gemeinsam überlegen, wer welche konkreten Aufgaben in der Zusammenarbeit übernimmt.
C bedankt sich bei A für die gemeinsame Reflexion unter Sozialarbeiter-Kolleg*innen.
- Intervention von C: Unter geänderten Bedingungen!
Zwei Monate sind vergangen, A und B arbeiten zusammen, C ist seit einer Woche Projektleiter und damit direkter Vorgesetzter von A und B. Mit der Funktion hat C auch die Verantwortung für den formalen Umgang mit B’s „Alkoholproblem“ übernommen. C führt mit allen Angestellten – also auch mit B – erste Mitarbeiter*innen-Gespräche, um die gegenseitigen Erwartungen abzuklären und Ziele zu vereinbaren.
B’s Privatleben und „sein Alkoholproblem“ kommen dabei nicht zu Sprache – man kennt sich durch die Arbeit im gleichen Haus sowieso. Dafür erfährt C unter Anderem, dass B eine lange Liste kleinerer Reparaturen angefertigt hat die jedoch nie erledigt wurden. B freut sich über den Auftrag, einen Kosten-voranschlag zu erstellen, den Materialeinkauf zu erledigen und gemeinsam mit Klient*innen im Rahmen der Ausbildung die Arbeiten zu erledigen.
Von A und anderen Mitarbeiter*innen erfährt C, dass die Zusammenarbeit gut funktioniert, B seit einiger Zeit nicht mehr trinkt und einen zufriedeneren Eindruck macht.
Nr. 2 von M. Judy
erfolgreich
Vier ältere Herren der Fachgruppe kamen zu der (jungen) Leiterin einer Bildungeinrichtung, heftig und bitter über irgendetwas streitend. Nachdem sie ihnen längere Zeit zugehört hatte, meinte sie, das sei wirklich eine ganz schwierige Sache, die auch die Einrichtung massiv beträfe. Sie sähe daher ein, dass sie sich hier nicht heraushalten könne. Daher würde sie nachdenken, und wenn die Fachgruppe in einer Woche immer noch keine Lösung gefunden hätte, würde sie eine Entscheidung treffen.
Die Herren erwogen das kurz, dankten ihr und gingen. Sie hat nie wieder von Konflikten gehört, Auswirkungen auf den Betrieb blieben aus. Die Herren müssen das Problem wohl gelöst haben.
Nr. 3 von M. Judy
nicht erfolgreich
In einer kleinen Firma stellt der zuständige Haustechniker fest, dass ein im Geräteraum aufbewahrter kleiner Rollwagen verschwunden ist, was einigen Aufruhr verursacht. Am nächsten Tag ist der Wagen plötzlich wieder da. Die Leiterin ist sich ziemlich sicher, dass die langjährige Bedienerin den Wagen mitgenommen hat. Noch bevor es zu einem Gespräch kommen kann, geht diese in Krankenstand. In Besprechungen kommt man zu der Überlegung, dass Frau M., Analphabetin und Roma, durchaus im Sinne ihrer eigenen moralischen Werte gehandelt haben könne insofern, als Romakulturen traditionell keinen individuellen Besitz kennen. Vorhandenes wird genützt, wenn jemand anderer es braucht, stellt man es zur Verfügung.
Man einigt sich daher auf die Vorgangsweise, sie nicht direkt zu konfrontieren, sondern dass sich die Leiterin in der nächsten Teambesprechung bei der unbekannten Person für das Zurückgeben bedanken solle, mit dem Nachsatz, dass es bei uns nicht üblich sei, sich Dinge auszuborgen. Dazu kommt es jedoch nicht. Frau M. kündigt, ohne je aus dem Krankenstand zurückgekommen zu sein.
Nr. 4 von B. Lehr
Karl war nicht bei der Supervision dabei, nicht mehr. Er wollte weg von dieser Supervisionsgruppe, er hat sich gegen den Protest mancher Teammitglieder verabschiedet. Natürlich ging es bei der nächsten Supervision nach ein paar taktvollen Umwegen um Karl.
Er spräche nicht mit ihnen oder nur ganz wenig, bzw. eigentlich nur mehr mit Ralf und mit dem wahrscheinlich nur, weil er ihn in Ruhe lässt. Er sei viel krank, nun schon wieder, er sagt er habe viel zu tun. Sie, die Sozialarbeiter*innen hätten aber sehr gerne gewusst, wie es den Klient*innen, mit denen sie schließlich arbeiten müssten, in Karls zusätzlichen, die Arbeitsvermittlung betreffenden Betreuung, ginge.
In den Äußerungen war Ärger, Wut und Frust und, wie immer man diese Gefühlszustände nennt, zu vernehmen. Einzig Ralf schien ruhig und nachdenklich.
„Wenn ich Kurt wäre“, sagte ich,“ würde ich dir wahrscheinlich auch eher aus dem Weg gehen und vielleicht noch zu Ralf, denn es könnte sein, dass ich mir anhören müsste, wie unfähig ich eigentlich bin“. Sie, Ursula, lächelte mich an. „Ja sicher“, sagt sie.
„Du willst also, dass Karl sich ändert. Du sagst es nicht direkt, aber durch viele Blumen. Und je mehr er das merkt, desto weniger will er mit dir zu tun haben, desto mehr meidet er dich. Was wäre, wenn Karl wirklich nicht anders kann? Wenn seine Fähigkeiten begrenzt sind? Wenn er nicht aufnahmefähiger ist, weil es sein Organismus, seine Ausbildung oder was immer auch nicht mehr zulassen? Was wenn er schon am Plafond ist?“
„Dann müsste ich anders handeln“, sagt Ursula nachdenklich, „dann müsste ich anders handeln.“ Einmal betonte sie „ich“ einmal hob sie „anders“ hervor. „Aber warum dürfte ich ihm nicht sagen, was er falsch macht?“ fragt sie daraufhin.
„Es steht nirgends, dass du ihm das nicht sagen dürftest. Mich würde höchstens interessieren wie du ihm das sagst und wie oft du es ihm sagst.“
Und dann fiel mir eine alte Geschichte ein, die ich zu erzählen begann, die mir vor langer Zeit auch oft erzählt, eigentlich vorgelesen wurde: Die wesentlichen Sätze, die ich noch in Erinnerung habe: Wenn dich einer ärgert, dann sag ihm das und verzeih es ihm und wenn er dich wieder ärgert, dann sag es ihm wieder und verzeih es ihm gleichzeitig. Und wenn er es wieder tut? fragten sie ihn. Dann verzeih ihm wieder. Wie oft denn Meister soll man jemanden verzeihen? Der Meister sah sie an und sagte: Sieben mal siebenundsiebzig Mal.
„Es gibt also eine Begrenzung, wie oft du ihm etwas sagen wirst, und zwar in einem Ton, wo er verstehen könnte, dass du einsiehst, dass er sein Maximalstes und Bestes getan hat, du aber doch etwas Anderes wünscht. Mit größter Wahrscheinlichkeit genügen ein paar Mal.“
Ursula lächelte. Am Ende der Supervision, beim Weggehen, sagte mir Ralf zu meiner Überraschung, dass er in dieser Supervision viel gelernt habe.
Nr. 5 von W. Milowiz
Ein paar Freunde und ich standen abends nach einer Kinovorstellung beim Kinoausgang zusammen, um zu besprechen, was wir noch unternehmen wollten. Da kam ein eher kleiner, etwas schäbig gekleideter und unrasierter Mann vorbei, blieb bei unserer Runde stehen und begann, alles, was wir sagten, mit provokanten Äußerungen, wie etwa „der red‘ an Schaß“, „bringt’s eh nix z’samm!“ und ähnlichem, zu kommentieren.
Wir reagierten zunächst alle so, als würden wir’s nicht hören, in der Hoffnung, der Gute werde bald wieder seine Wege gehen, aber der blieb hartnäckig, und in unserer Runde wuchs die Unruhe.
Dann, nach einiger Zeit drehte ich mich um zu ihm, während die anderen weiter redeten, und fragte ihn ganz ruhig, ob er Streit haben wolle. Seine Antwort entsprach seinem bisherigen Verhalten: Mit leicht drohendem Unterton sagte er: „Vielleicht?“.
Ich antwortete kurz, weiter in normalem Tonfall: „Aha. Wir nämlich nicht!“ und drehte mich wieder um. Der Mann sagte nichts, stand noch kurz da und ging dann weiter. Und wir setzten unser Gespräch fort.
Intervention bei der Polizei
von Renate Pokorny
Immer wieder kommt es vor, dass man als Bewährungshelfer mit der Situation konfrontiert wird, daß Klienten angeben, darunter zu leiden, von der Polizei unkorrekt behandelt zu werden (ähnliches passiert auch manchmal bei Vorsprachen auf Sozialämtern, bzw. anderen Behörden). Im Falle der Polizei ist dies besonders unangenehm, weil unsere KlientInnen – da sie ja „Täter“ sind – meist von vornherein kein besonders gutes oder entspanntes Verhältnis zur Polizei haben.
Auch bei meiner Klientin D. war das der Fall, sie wurde bei Besuchen der Polizei ziemlich überrumpelt und eingeschüchtert. In der Folge suchte ich den betreffenden Polizei-posten-kommandanten auf, um mit ihm über die Angelegenheit zu sprechen, in der Absicht, meiner Klientin für kommende Polizeikontakte (die zu erwarten waren, da Ermittlungen liefen) eine bessere Ausgangsposition zu verschaffen (zusätzlich habe ich sie über ihre rechtliche Situation aufgeklärt und mit ihr erarbeitet, wie sie diese besser einfordern kann). Gleich nach der Begrüßung, und nachdem ich mich vorgestellt hatte, versicherte ich dem Polizeikommandanten, dass ich überzeugt wie, dass er hier, wie sonst sicher auch oft, eine sehr schwierige Aufgabe zu erfüllen habe. Von dieser Tatsache bin ich auch wirklich überzeugt. Obwohl ich natürlich wegen meiner Klientin hier sei, denke ich doch, schloß ich an, daß wir insofern ein gemeinsames und wichtiges Ziel mit unserer Arbeit verfolgen, als wir beide – im staatlichen Auftrag – daran interessiert seien Kriminalität zu verhindern – er durch deren Bekämpfung, und ich durch meine Betreuung.
Dann ging ich auf das Problem meiner Klientin ein, die offensichtlich mit der Art wie die letzte Einvernahme ablief sehr überfordert gewesen sei, und dies ja auch für die Ermittlungen nicht günstig sei. Da ich mit großer Höflichkeit und Überzeugung auftreten konnte, war auch der Postenkommandant sehr höflich zu mir, obwohl er sich über meinen Besuch sicher nicht sehr freute (ich ja auch nicht) und da ich seine berufliche Kompetenz so direkt und positiv ansprach gelang es ihm spantan auch nicht, die meinige in Frage zu stellen. Jedenfalls konnten wir uns wirklich auf ein weiteres Vorgehen einigen, das zur allseitigen Zufriedenheit mit zu einer besseren Situation beitrug, sowohl für meine Klientin D., wie für mich und auch für die Polizei.
Bei der nächsten Einvernahme meiner Klientin durfte ich anwesend sein, das trug für sie dazu bei, sich etwas weniger ausgeliefert zu fühlen, ich hatte die Sicherheit, daß alles korrekt zuging, und der einvernehmende Polizist war sehr sachlich und höflich, ja er bewies zunehmend Verständnis für ihre Lage (es passieren ihr immer wieder „zwanghafte“ Diebstähle), und außerdem ersparte sich der Postenkommandant, extra eine weibliche Kollegin von auswärts hinzuzuziehen, wie dies sonst vorgeschrieben gewesen wäre. (Abseits meiner erfolgreichen Intervention war sie in der Folge noch wichtige Zeugin bei einem Verkehrsunfall und hat inzwischen ein ungewöhnlich entspanntes Verhältnis zur Polizei – sie kennt ja schon alle, auch sie ist bekannt, nun auch in einer positiven Rolle – wenn man sie nun sehr selbstbewusst mit PolizistInnen reden hört, könnte man meinen, sie unterhält sich mit einem Nachbarn oder Kollegen, so wenig Spannung und Angst ist dabei mehr bemerkbar).
Hier ist noch hinzuzufügen, dass dieser Ablauf der Intervention nicht nur bei meiner Klientin D. und auf diesem Polizeiposten gute Erfolge brachte, sondern daß ein solches Verhalten in ähnlichen Situationen ähnlich gute Erfolge bringt, eine Erfahrung, die auch von anderen Kollegen der Bewährungshilfe geteilt wird.
Systemisches Denken und die Polizei
von Veronika Spannring
Die Zusammenarbeit zwischen dem Schlupfhaus und der Polizei war von Anfang an nicht sehr gut. Wir hatten das Bild von einer Polizei, die für die Jugendlichen nachteilig arbeitet, bei Vernehmungen Kompetenzen überschreitet, im Umgang mit Jugendlichen überfordert ist und der Einrichtung Schlupfhaus gegenüber misstrauisch ist.
Wir vermuteten, dass die Polizei von uns glaubte, dass wir aus Prinzip gegen sie arbeiten, dass wir Ihnen Informationen, die ihnen zustehen, vorenthalten und dass wir Jugendliche vor ihnen schützen, auch wenn es nicht gerechtfertigt ist. Auf dieser Basis konnte die Zusammenarbeit nicht funktionieren. Beide Seiten waren hoch sensibilisiert und manchmal fielen die Unstimmigkeiten auch auf die Jugendlichen zurück.
Das änderte sich durch ein Schlüsselerlebnis in der systemischen Aufstellung: In einer Supervision wurde ein Fall aufgestellt, den ein Bewährungshelfer einbrachte. Verschiedene Institutionen arbeiteten in diesem Fall zusammen und die Supervisorin stellte das Jugendamt und die Bewährungshilfe wie Mutter und Vater hin.
Für mich war das ein Schlüsselerlebnis für die Zusammenarbeit mit der Polizei. Betrachtete ich unsere Zusammenarbeit mit der Polizei durch die Elternbrille, sah ich, dass wir eigentlich Partner sind. Partner zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus: es gibt ein gewisses Maß an gegenseitiger Wertschätzung und sie haben ein gemeinsames Ziel. Uns verband die Tatsache, daß Jugendliche straffällig wurden oder knapp davor waren, straffällig zu werden, auch, wenn wir verschiedene Aufgabenbereiche und deshalb auch andere Zugänge hatten. Meine Vorstellung über die Arbeit der Polizei entstand einerseits durch Vorurteile, andererseits durch die Erfahrungen, die ich in der täglichen Arbeit gemacht hatte.
Die Polizeibeamten haben mit den Jugendlichen hauptsächlich bei Vernehmungen und bei Raufereien zu tun, d.h., in erster Linie geht es darum, darauf zu achten, daß die gesellschaftlichen und rechtlichen Regeln beachtet und Grenzen gesetzt werden. Unsere Aufgabe ist es, Gesprächs- und Betreuungsangebote zu machen. Die Jugendlichen sollen das Schlupfhaus für eine Verschnaufpause nützen können. Straftaten stehen nicht im Mittelpunkt, außer, es liegt etwas Aktuelles vor oder die Jugendlichen sprechen von sich aus darüber.
Durch die Elternbrille erkannte ich eine väterliche und eine mütterliche Seite und sah ein Elternpaar mit einem uneinheitlichen Erziehungsstil und ein Kind dazwischen, das sich nicht auskannte.
Ich lernte, anzuerkennen, daß die Polizeibeamten für viele Jugendliche eine wichtige Funktion übernahmen: Sie besetzten den väterlichen Anteil, der in vielen Lebensgeschichten fehlte oder nicht ausreichend präsent war.
In der Folge entschärfte sich mein Standpunkt und meine Vorstellung davon, wie mit den Jugendlichen umzugehen ist. Ich konnte auch anderes gelten lassen; und aus Entweder/oder wurde Sowohl/als auch. Dadurch wurde es mir möglich, aus dem Konkurrenzverhältnis etwas herauszutreten und die Zusammenarbeit wurde leichter.
Die Wirkung
Die Wirkung meines Positionswechsels konnte ich wenig später im Gespräch mit zwei Polizeibeamten zum ersten Mal feststellen. Sie kamen ins Schlupfhaus, weil sie eine abgängige Jugendliche suchten und nahmen Einsicht ins Gästebuch. Wir kamen ins Gespräch und sie zeigten sich fassungslos darüber, dass ein Sofa, dass beinahe neu war, in kurzer Zeit so einen abgenutzten Eindruck machen konnte. Wie schaut’s denn hier aus? Die Jugendlichen zerstören wohl alles? Was machen die überhaupt hier? Ihnen geht es zu Hause eh‘ gut. Die meisten Familien dieser Kinder kenn ich, deren Müller tun ja eh alles für ihre Kinder! Ich wartete die erste Aufregung ab und erklärte den Beamten dann meine Sicht:
Auch ich sehe, dass die meisten Mütter unserer Jugendlichen alles tun für ihre Kinder, in dem Sinn, daß sie ihre Kinder gewähren lassen. Vielfach wird aber verabsäumt, den Kindern Grenzen zu setzen und Konsequenzen aufzuzeigen. In vielen Familien fehlt der Vater oder er beteiligt sich nicht an der Erziehungsarbeit. Die Mütter sind mit der alleinigen Belastung oft überfordert. Ich sagte den Beamten, dass ich einen Grund, warum manche Jugendliche soviel mit der Polizei zu tun haben, darin sehe, dass diese Jugendlichen auf der Suche nach einem Vater sind und jemanden brauchen, der ihnen Grenzen setzt. Dieses Gespräch war die Grundlage für eine weitere, intensivere Zusammenarbeit. Es wurde klar, daß beide Institutionen das gleiche Ziel verfolgen, dabei unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung haben und den Jugendlichen unterschiedliche Angebote machen können, die sich gegenseitig ergänzen.
Theater spielen
von Conny Karlburger
Ein bis zwei Nachmittage der Woche arbeite ich in einer Freizeiteinrichtung für Menschen mit Behinderungen.
Die meisten BesucherInnen dieser Einrichtung arbeiten in geschützten Werkstätten, leben trotz ihres erwachsenen Lebens noch bei ihren Eltern und manche in betreuten Wohngemeinschaften. Der Freizeitbetrieb des Clubs ist für sie ein wichtiger Bestandteil ihres sozialen Lebens und bei vielen auch der einzige.
Seit einigen Jahren biete ich kreativen Tanz an und habe zu Beginn immer wieder versucht, den Teilnehmer*innen etwas „beizubringen“, das sie nicht können. Es war nicht immer grundverkehrt, aber es war oft sehr anstrengend und manches Mal auch frustrierend, nur kleine, hart erworbene Lernerfolge zu bemerken.
Die Erkenntnis des halbvollen Wasserglases …
… begann unerwarteter Weise eines Tages auch in diesem Bereich zu greifen. Ich begann mehr und mehr eine andere Brille aufzusetzen um zu sehen was denn diese Menschen alles können, anstatt sie vom „Nicht-können“ wegbringen zu wollen. Der Wunsch von den Besucher*innen wieder einmal Theater zu spielen, kam gelegen und ich versuchte mit ihnen gemeinsam ein Stück zu entwickeln vom Ansatz des Könnens. Zum Beispiel – Besucher L nimmt alles sehr genau, wiederholt das auch noch regelmäßig und hat exakte Vorstellungen wie, wann und wo etwas zu geschehen hat.
Ich könnte das nun als Ausdruck seiner autistischen Persönlichkeit sehen und versuchen es zu verändern (werde dabei ziemlich sicher scheitern) oder:
Ich betrachte es als sein Können und setze es in einen anders konstruierten Zusammenhang.
Dadurch bemerkte ich neben seiner Genauigkeit auch seine Verlässlichkeit. Und z.B. eine Rolle als Ober oder Polizist war ihm auf den Leib geschrieben. Seine hohe Körperspannung war wie geschaffen dafür.
Oder Besucherin C nimmt viele Dinge sehr persönlich und emotional und es kam immer wieder in Gruppensituationen zu eskalierenden Auseinandersetzungen. Des öfteren versuchten verschiedene KollegInnen und ich ihr zu erklären, daß sie es doch anders machen sollte. Mit einem anderen Blickwinkel, in einem anderen Zusammenhang, ist dieses Verhalten dramaturgisch einzigartig. Melodramatische Rollen hätte niemand besser spielen können als sie.
Wir versuchten für alle, die an unserem Stück teilnehmen wollten, passende Rollen zu schneidern und daraus eine spannende, witzige Geschichte zu kreieren. Es entwickelte sich eine nie zuvor dagewesene Begeisterung, Verlässlichkeit und vor allem eine Identifikation mit dem ganzen Ablauf. Das ist besonders bemerkenswert, weil es gerade in diesem Bereich sehr schwierig ist, einen kontinuierlichen Prozess in Gang zu halten. Es kam zu mehreren gelungenen Aufführungen, beispielsweise auch zu einer öffentlichen im Rahmen eines Theaterfestivals für Menschen mit Behinderung im WUK.
Entscheidend war …
… mit Hilfe einer anderen Sichtweise und eines anders konstruierten Rahmens ihr vorhandenes Potential anzuerkennen.
Nicht die Behinderung oder Einschränkung war das Problem sondern das Wechselspiel, das oft zwischen Menschen mit anerkannten Behinderungen und denen „ohne“ entsteht. Die „ohne“ geben vor, was vorhanden sein muß oder was fehlt und die „mit“ entsprechen und zeigen was sie alles nicht können.
Nach den ersten Aufführungen kamen manche ZuschauerInnen zu mir und erzählten mir über ihre Faszination und es war ihnen bewusst geworden, wie sie den einen oder anderen unterschätzt hätten. Einer gestand mir er hätte Bedenken gehabt es könnte peinlich werden. Daraufhin ist mir klar geworden: Es kann nicht peinlich sein, wenn man sein Können präsentiert und dieses in einen stimmigen Zusammenhang stellt.
Besonders schmunzeln mußte ich, über die Bemerkung eines Angehörigen, der mir mitteilte, daß er durch die Aufführung seinen Sohn von einer ganz anderen Seite wahrgenommen und kennengelernt hätte. Er war fast beschämt diesen Teil früher nie gesehen zu haben. Offensichtlich war es gelungen den Zuschauer*innen nicht nur etwas „Nettes“ zu zeigen, sondern auch einen Lern- und Denkprozess anzubahnen. Weitere Auswirkungen dieser veränderten Sichtweise sind mir nicht bekannt, aber ich vermute sie sind unumgänglich.
Die einfachste Lösung
von Georg Kanitsar
Einleitung
Familienintensivbetreuung ist ein Instrument des Amtes für Jugend und Familie der Gemeinde Wien. Die Betreuung wird von dem/der zuständigen Sprengelsozialarbeiter*in der Familie angeboten. Die Familie, die/der Sprengelsozialarbeiter*in und die/der Familienintensivbetreuer*in (FIB) vereinbaren gemeinsam einen Arbeitsvertrag, bei dem eine Problemeingrenzung vorgenommen wird. Die Betreuung der Familie erfolgt in ihrer Wohnung, erfordert die Freiwilligkeit der Familie und ist gratis. Der Hausbesuch erweist sich oft als wesentlich lebendigere Beratungssituation, denn auch im Beisein des Beraters nimmt man sich kein Blatt vor dem Mund. Diese spontane Möglichkeit erfordert jedoch große Konzentration beim Betreuer.
Die Familie F. wurde mir vor acht Monaten, vorerst in unserem Besprechungsraum der FIB vorgestellt. Neben dem Ehepaar F., Fr. Martha F., 34 Jahre, Hrn. Alois F. 37 Jahre, gibt es drei Kinder: Roswitha 15 Jahre, Alois 7 Jahre und Paul 5 Jahre alt. Zum Erstgespräch erschienen Fr. Martha und Hr. Alois F. und die zuständige SprengelsozialarbeiterIn. Anlaß war das vehemente Drängen von Alois Schule, sein Problem, gelegentliches Einkoten, behandelt zu wissen.
Problemstellung
Die Familie F. ist seit Jahren dem zuständigen Bezirksamt für Jugend und Familie bekannt. Fr. F. ist im Haushalt tätig, Roswitha und Alois besuchen die Schule und für Paul beginnt demnächst die Schulpflicht. Die Arbeitsbereitschaft von Hr. F. wird als nicht sehr ausgeprägt bezeichnet. Die Familie lebt fast hauptsächlich von der Unterstützung der Arbeitslosenversicherung.
Der Problemträger der Familie ist der minderjährige Alois. Er kotet fast ständig ein, bzw. ist er eigentlich nie sauber geworden. Als die Situation mit seinem Schuleintritt unerträglich wurde, erlebte die Familie einen permanenten Druck von der Schulbehörde und auch vom Amt für Jugend und Familie, mit ihrem Sohn „etwas“ zu unternehmen.
Der Bub wurde vor vierzehn Monaten zur stationären Beobachtung in der Heilpädagogischen Station des Allgemeinen Krankenhauses aufgenommen. Da Alois sehr unter der Trennung von seiner Familie litt, wurde ein spezielles Arrangement getroffen. Er wurde täglich am Morgen von seinem Vater zur Klinik gebracht und am Abend wieder abgeholt. Nach einem Monat wurde der Aufenthalt ohne nennenswertes Ergebnis beendet.
Ein weiteres Angebot, Hilfe bei einer sozialpädagogischen Beratungsstelle zu finden, wurde zwar zunächst angenommen, aber sowohl von Alois (alle reden immer über mich), als auch seinem Vater (mangelnde Problemeinsicht und Enttäuschung über seinen Sohn, der trotz seiner Bemühungen nicht dankbar ist), vorerst zu ernst, in Folge immer weniger ernst genommen und nach einigen Terminen von der Familie abgesetzt.
Betreuungsziel
Sowohl von der Familie als auch von der zuständigen Sozialarbeiterin wurde primär Hilfe für Alois erwünscht. Dadurch erhofften sich die Eltern nicht mehr von der Schule mit der Schuldzuweisung an Alois „Krankheit“ konfrontiert zu werden. Die Sozialarbeiterin, die Alois als den Symptomträger eines dysfunktionalen Familiensystems sah, ersuchte mich, das Interaktionsmodell der Fam. F. zu beobachten und wenn möglich zu verändern.
Das Erstgespräch, bzw. vorläufige gemeinsame Zieldefinition
Wie erwähnt fand unser erstes Gespräch unter Anwesenheit des Ehepaars F. und der Sprengelsozialarbeiterin in den Räumlichkeiten der FIB statt. Fr. F. erzählte offen und sehr spontan, Hr. F. eher distanziert, abwechselnd von ihrem Problem mit Alois. Dabei erwähnten sie, daß sie von der Schule einerseits recht unter „Druck“ gesetzt werden (gleich einer Produkthaftung = Eltern haften für ihre Kinder), aber andererseits Alois mit seinem „Leiden“ auf viel Verständnis bei seiner Klassenlehrerin und bei seiner Beratungslehrerin stößt. Auch mit seinen Klassenkameraden gibt es keine Probleme. Nebenbei erzählten sie, daß Alois im Gegensatz von Zuhause in der Schule kaum einkotet.
Die Sozialarbeiterin erleben sie als sehr hilfreich. Von ihr hatten sie bereits zwei Betreuungsangebote bekommen, die leider nicht den erwünschten Erfolg erzielten. Auf meine Frage, wo sie noch „Druck“ verspüren, erwähnte Hr. F. Probleme mit der Nachbarschaft, fügte aber gleich hinzu, daß ihm das egal sei: „Die“ sehen uns als Gesindel, also sollen sie auch sehen wie sich Gesindel benimmt.
Fr. F. fühlte sich mit der Erziehung der Kinder und der Haushaltsführung zeitweise überfordert und hat kaum Zeit für eigene Interessen. Von Pauls bevorstehendem Schuleintritt erhofft sie, ihren Außenkontakt über die Grenzen der Wohnhausanlage zu erweitern. Das Nachbarschaftsproblem wurde als nicht vorrangig dargestellt. Durch Fr. F’s. Außeneinschätzung vermutete ich vorerst, daß sich Hr. F., angesichts kommender Hausbesuche, wegen der nicht gerade luxuriösen Wohnsituation der Familie, genierte.
Offensichtlich für mich war, dass bereits zwei Versuche, die Alois ins Zentrum der Gespräche stellten, fehlgeschlagen waren. Hier griff ich die Befürchtung von Fr. F., daß Alois große Angst davor hat, neuerlich in den Mittelpunkt der Beachtung gerückt zu werden, auf. Ich schlug den Eltern vor, bei unseren folgenden Gesprächen, bei dem auch die Kinder anwesend sein sollen, Alois und sein „Leiden“ vorerst auszuklammern. Zum einander Kennenlernen, schlug ich als Inhalt des ersten gemeinsamen Gesprächs mit der ganzen Familie das Thema: Erziehungsberatung vor. Die Eltern akzeptierten dieses Angebot und weiterer Gespräche unter dem nebulösen Thema Erziehungsberatung und verließen erleichtert mein Büro. Eines hatten wir gemeinsam, weder die Fam. F., noch ich hatten eine konkrete Vorstellung was unsere Zieldefinition bedeuten soll. Aber immerhin ein kleiner Schritt für uns, ein großer für die „Öffentlichkeit“.
Beobachtungsphase
Ich will jetzt weder FIB erklären, noch einen Platz im Vorfeld der therapeutischen Arbeit suchen wo, FIB hineinpaßt. Aber ein Vorteil meiner Arbeit ist es, Zeit zu haben das Interaktionsmuster und die Kommunikation der Familienmitglieder untereinander im Lebensbereich der Familie zu beobachten. Dazu verwende ich im Durchschnitt drei Monate. Mir ist klar, dass Hunde, die sich im Park beschnüffeln, schneller entscheiden, ob sie einander akzeptieren und einer sozialen „Beschnüffelung“ wesentlich aufgeschlossener sind, als eine Familie, die von der „Öffentlichkeit“ einen „Schnüffler“ vorgesetzt bekommt, beziehungsweise sich freiwillig zur Beschnüffelung bereit erklärt.
Interaktionsmuster der Familie F. in der Beobachtungsphase
Herr Alois F: Hr. F. präsentiert sich als Oberhaupt der Familie und ist bei jedem Gespräch anwesend. Er bringt sich meist erst am Ende der vorgegebenen Zeit ein und zeigt sein Mißtrauen an der amtlichen Betreuung durch seine Körpersprache.
Roswitha F: Da, vermutlich zu ihrer Überraschung, ihr Bruder Alois nicht der Mittelpunkt der Gespräche ist, freut sie sich ganz besonders über die Gelegenheit, auch einmal ein Problem zu haben. Das geht so: da ihr offensichtlich die Rolle des Gesindels vom Gemeindebau nicht gefällt, sieht sie in mir eine Chance, die Eltern davon zu überzeugen, daß sie trotz wenig zufriedenstellender Noten für die Laufbahn einer höheren Schule geeignet ist.
Alois F: Alois fühlte sich, mehr als sein Vater, durch meine Anwesenheit bedroht. Schon wieder einer dem es interessiert, wie oft ich in die Hosen scheiße. Mißtrauisch saß er bei jedem Gespräch, bis er nach einigen Wochen einsah, daß er nicht mehr so wichtig war. In dieser Zeit bemühte er sich in Körperhaltung, Aussehen und Sprache so gut er konnte seinen Vater erfolgreich zu imitieren.
Paul F: „Eigentlich gibt es ihn auch noch“. Er näßt nicht ein, er erfüllt die Wohnung nicht mit dem Aroma einer angeschissenen Hose. Ganz im Gegenteil, er ist das heimliche Genie der Familie. Er kann bereits rechnen und schöner schreiben als sein Bruder. Mit allen heimlichen Genies dieser Welt hat er ein gemeinsames Schicksal: er wird weder von seiner Familie, noch von der Umwelt wahrgenommen.
Zu diesem Zeitpunkt der Betreuung waren die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder gegenläufig.
Die ersten Informationen und meine Überlegungen
Langsam aber sicher kristallisierte sich heraus, dass Fr. F. die sogenannten Hosen der Familie anhat. Die Familie bewohnt eine Wohnung in der Fr. F selbst Kind war, und mit ihren Eltern aufwuchs. Hr. F. wuchs im gleichen „Bau“ auf. Seine Familie war im Gegensatz zur Familie der Fr. F. schon seit jeher „belastet“. Die Eltern waren (un-)geduldete Alkoholiker; die Schwester fand ihren Reichtum in der Karriere einer Prostituierten.
Der Wiener „Gemeindebau“ ist, wie man aus Literatur und Fernsehen weiß, ein Begriff. Ein System an Bewohnern, die außer darin zu wohnen, sehr an ihrer unmittelbaren Umwelt interessiert sind. In der Literatur und im Fernsehen wird die Meinung der Bewohner des Baus meist durch eine Hausmeisterin vertreten. Die Realität der Fam. F. weicht dem Klischee nicht aus. Die Gemeinschaft der Bewohner weiß bald, daß die arme Martha beim Alois kein Glück finden wird. Selbst Marthas Familie, die von dieser Ehe schon gar nicht begeistert war, merkt bald, daß Alois genau ihre Erwartungen erfüllt. Er arbeitet gelegentlich, kann seine Frau nicht erhalten und zeugt noch dazu Kinder mit ihr: Eine neue Problemfamilie wurde geboren.
Die Problemfamilie wird von Ursula Dauer und Ria Gabmann wie folgt beschrieben: Problemfamilien sind solche Familien, die nicht nur eine Massierung von Problemen aufweisen, sondern darüber hinaus nicht in der Lage sind, angemessene Lösungsstrategien für ihr Problem zu entwickeln. Arbeitslosigkeit ist ein häufiges Kriterium der Familien. Damit verbunden ein chronischer Geldmangel und Verschuldung. Die Wohnverhältnisse sind, durch die Kinder und die finanzielle Situation, beengt. Ein auffälliges Merkmal ist die ungeheure Vielfalt und der abrupte Wechsel der Beziehungsqualitäten. Unbeteiligtes Nebeneinander, intensive Zärtlichkeit, Streit, Beschimpfung wechseln sich in kürzesten Zeitabständen ab. Beziehungen sind kaum berechenbar. Durch agieren kann man bemerkbar sein. Das Kind das am lautesten agiert, bekommt seine Aufmerksamkeit.
Die Veränderung in den ersten drei Monaten
Zu Beginn meiner Besuche hatte es den Anschein als würde Hr. F. nur zur Wahrung des häuslichen Friedens dem Drängen seiner Frau nachgegeben haben und Hilfe wünschen.
Bald zeigte er, zuerst in seiner Körpersprache, zusehend an seiner Beteiligung an Gesprächen sein Interesse. Alois hingegen war vorerst ständig anwesend und beobachtete genau ob wir tatsächlich nicht von ihm und seinen vollen Hosen sprachen. Erst nach zirka zwei Monaten schafft er es uns gelegentlich zu verlassen um sich mit seinem Bruder Paul im Nebenzimmer zu raufen. Kurze Zeit später wurde ich als total ungefährlich eingestuft. Heute empfängt er mich mit einem lauten „Hallo“ und ist froh, dass seine Eltern durch mich beschäftigt sind. Nachdem Roswithas sozialer Aufstieg zu einer „höheren“ Tochter in Form der Aufnahmsprüfung beendet wurde, zog sie sich auf ihr altes Vorrecht, Roswitha besitzt als einziges Familienmitglied ein eigenes Zimmer, zurück. Vermutlich ist es das Schicksal von Roswitha, daß niemand sonderlich enttäuscht war, dass sie die Aufnahmsprüfung nicht geschafft hat. Paul freute sich, daß er mit seinem Bruder wieder so spielen konnte wie er es vor meinem Erscheinen gewohnt war.
Da die Kinder ihr Interesse an unseren Gesprächen verloren, konnte ich von Familienebene auf Elternebene übergehen. Alois war wieder zu einem gemeinsamen Thema geworden. Auf meine Frage, wann denn Alois einkotet, konnten sowohl Hr. als Fr. F. keine Antwort finden. Es fiel ihnen wesentlich leichter zu beantworten, wann er den nicht, oder kaum einkotet: in der Schule, beim Spiel im Hof, bei Verwandtenbesuche etc. Meine nächste Frage war, ob sie Situationen bemerkt haben, wo es zu häufigen Einkoten kommt. Nach einigen zögern erzählten Fr. und Hr. F., dass es eigentlich schon immer, in letzter Zeit häufiger zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen kommt. Auslöser sind die finanziellen Schwierigkeiten. Bis jetzt haben sie es noch immer geschafft über die Runden zu kommen. Natürlich gab es auch manchmal Streit.
Damit war auch Alois aus den Gesprächen ausgeschieden. Die Elternebene reduzierte sich auf die Paarebene. Auf meine Frage, was sie sich von ihrer Zukunft erhoffen, ergab sich für mich folgendes Bild.
Fr. F. wünscht sich: Trotz der finanziell schlechten Bedingungen und widrigen Umständen muß die Fassade der funktionierenden Familie aufrecht gehalten werden. Als bekannte und liebe „Martha“ mag sie vor den Bewohnern des Gemeindebaus nicht versagen. An den Streitereien im Bau ist mein Mann nicht unschuldig. Ich möchte, daß er sich zurückhält.
Hr. F. wünscht sich: Ich will endlich von dem Image meiner Eltern wegkommen. Es ist richtig, daß ich zur Zeit arbeitslos bin, trotzdem will ich von meiner Umwelt (Gemeindebau, AJF, Schule) nicht wegen meines Versagens (Arbeitslosigkeit) verurteilt werden. Ich will, daß man mich und meine Familie achtet.
Das Ehepaar war sich bewußt, daß die häufigen finanziellen Engpässe zum Streit führten. Die Sorge, Miete und Energie zu bezahlen, verband, wechselte aber zu fürchterlichen Szenen, wenn es um Versandhausrechnungen ging. Diese Ereignisse führten immer zur Betroffenheit der Eltern und der Kinder. Dazwischen der kleine Alois, der bei solchen Szenen erlebte, wie das Image seines Vorbilds bei jeder Auseinandersetzung von der Mutter demontiert wurde.
Mit Genuß verfolgte der Gemeindebau und somit die Öffentlichkeit diese Auseinandersetzungen. Der Gesprächsstoff für Interessierte war für den nächsten Tag gesichert.
Meine Arbeitshypothese
Für mich hatte diese dysfunktionale Beziehung der Familie ihren Ursprung weder in den Schulden, noch in Hrn. F’s. barschen Umgang mit den Hausparteien. Nach Hrn. F’s. Erfahrung hat ein Mann die Familie zu versorgen. Nach dem ihr bekannten Schema hat Fr. F. dafür zu sorgen, daß der Haushalt, inklusive der Erziehung der Kinder, funktioniert.
Das Anliegen der „braven Martha“ und des „barschen Alois“ hatten einen gemeinsamen Nenner. Beide wollten in der Wohnhausanlage (in der Öffentlichkeit) einfach Achtung und Ansehen um ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Ihre Wünsche waren in diesem Punkt deckungsgleich.
Meine Intervention
Mein Vorschlag, einfach die Rollen innerhalb der Familie zu tauschen, stieß vorerst auf Erstaunen des Ehepaars. Die „moderne“ Sichtweise, daß ein Hausmann eine verantwortungsvolle Rolle innerhalb der Familie übernimmt und das es in Zeiten wie diesen nicht ungewöhnlich ist, daß der weibliche Ehepartner die Versorgung der Familie übernimmt, war ihnen bis jetzt nur von den Medien (hauptsächlich vom Fernsehen) bekannt. Nach langem Abwägen der Meinungen, die nun ihre Umwelt und die Familie von Frau F. von ihnen haben würde, erklärten sie sich zu diesem Schritt bereit.
Die bisherigen Folgen der Intervention
Frau F. fand relativ rasch eine Anstellung als Serviererin in einem Kaffeehaus. Sie hatte schneller als sie erhoffte den Schritt über ihre bisherigen Umweltgrenzen erreicht. Die Kinder akzeptieren, dass sie nach einem Spätdienst am Morgen länger schläft. Die aktive Haltung ihres Gatten im Familiengeschehen erfreut sie. Als angenehmen Nebeneffekt erlebt sie, daß durch ihren Gehalt die finanzielle Misere der Familie noch lange nicht bereinigt, aber wesentlich entspannter ist.
Wahrscheinlich habe ich bei Hrn. F. ohnehin offene Türen eingerannt. Seine bisherige Haltung („Es gibt nichts Moralischeres als unnütz zu sein“) hat ihm vermutlich nie sonderlich behagt. Allmählich kam er ins Schwärmen über seine neue Rolle. Da er nun auch „offiziell“ im Familienleben eingebunden ist, fühlt er sich durch seine Aufgabe aufgewertet. Tatsächlich entwickelt er auch tadellose hausmännische Fähigkeiten. Voll Stolz bezeichnet er seine Frau als geborene Kellnerin. Sie kann nämlich besser mit fremden Menschen umgehen.
Die familiäre Streitsituation hat sich entspannt. Laut Angaben seiner Eltern kotet Alois deutlich weniger ein.
Der Blumenliebhaber
von Renate Fischer
Herr M. war ca. 50 Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Geschieden und von seinen Mitmenschen und dem Leben generell enttäuscht, lebte er seit Jahren alleine. Obwohl er eine gute Allgemeinbildung hatte, war er bereits viele Monate arbeitslos.
Zu mir kam er, weil er sich mit seinen Zahlungen nicht mehr zurechtfand. Trotz seinen geringen Einkommens schienen seine Schwierigkeiten aber nicht durch Armut oder größere Verschuldung verursacht. Vielmehr hatte Herr M. Probleme mit seinem Umfeld. Er schaffte es kaum, ein Amt auch nur zu betreten, dazu bedurfte es der Absolvierung vielfältiger Rituale seinerseits. Beim Verlassen eines Gebäudes war es nahezu das gleiche. Denn war er endlich mal drinnen, so brachte er sein Anliegen sehr umständlich vor und fand kaum ein Ende. Durch sein kompliziertes Verhalten kam es immer wieder zu Missverständnissen im Umgang mit Behörden und daraus wiederum resultierten zu spät eingezahlte Rechnungen und vieles mehr.
Lange Zeit drehte sich unser Gespräch um all die Dinge, die ihm Schwierigkeiten bereiteten. Und nichts schien diesen Kreislauf durchbrechen zu können – bis sein Blick auf eine Vase mit Rosen fiel, die in meinem Zimmer stand.
Zugegeben, diese Rosen sahen wirklich schon sehr jämmerlich aus. Herr M. schüttelte den Kopf und erklärte mir, wie Schnittblumen zu behandeln seien, insbesondere Rosen. Damit kannte er sich aus. Eindeutig, Blumen waren ein Spezialgebiet von ihm. Er erzählte mir wie es dazu gekommen war und nach nur wenigen Minuten stellte sich heraus, dass er noch eine – für seine momentane Problematik höchst wertvolle – Gabe besaß: Er konnte Geschichten erzählen. Spannende, amüsante, interessante, lehrreiche Geschichten aus seinem Leben.
Als ich ihn darauf aufmerksam machte, wie spannend ich seine Erzählungen fand, fielen ihm in relativ kurzer Zeit einige Begebenheiten ein, bei denen er es geschafft hatte, so mit seiner Umwelt leichter in Kontakt zu treten – trotz seiner schwierigen, neurotischen Art. Auf diese Weise gelang es ihm, nicht zu vereinsamen. Und vielleicht würde er sich diese Fähigkeit künftig auch für den Umgang mit Ämtern und Behörden zu Nutzen machen können.
Bianca: Wie verhält man sich als Lehrling?
von Kurt Sattlegger
Das Erstgespräch mit Bianca hinterließ folgenden Eindruck bei mir: ein ehrgeiziges Mädchen, das so schnell wie möglich eine Lehrstelle möchte, das aber ansonsten ziemlich uninteressiert an Gesprächen und Regeln ist. Aus der Berufsorientierung wurde ein Konflikt berichtet, der erst noch beizulegen war und der von Bianca offensichtlich nicht korrekt berichtet wurde, sie stellte Schutzbehauptungen auf, die sie nach und nach zurücknehmen musste.
Ein paar Tage später gab es auch Gelegenheit, die Mutter kennen zu lernen, die sich als sehr energische, laute und durchsetzungsstarke Person präsentierte.
Bianca war für den Bürobereich bei uns gemeldet. Die Mutter sei aber gut bekannt mit der Chefin eines großen Möbelhauses und Bianca könne dort als Verkäuferin anfangen, was sie auch interessierte.
Wir nahmen also Kontakt mit besagter Chefin auf, mit der wir seit längerer Zeit zusammenarbeiten. Ein Praktikum sei möglich, die Mutter, stellte sich heraus, putzte privat ab und zu für die Chefin.
Bianca trat das Praktikum an, nach ca. einer Woche erkundigte ich mich im Geschäft wie es denn mit ihr gehe. Die Antwort war leider nicht allzu positiv: sie könne zwar gut arbeiten (fleißig, genau), ihr Verhalten lasse aber sehr zu wünschen übrig. Die Klagen im Einzelnen: mit anderen Lehrlingen gebe es Streit, dabei würden sich sonst alle im Betrieb gut vertragen, auch gegenüber Vorgesetzten verhalte sie sich nicht offen und ehrlich, sondern mitunter schnippisch und unehrlich. Und schließlich habe sie im Zug von der Arbeit nach Hause schlecht über die Firma geredet, was irgendwie ebendort gelandet sei.
Keine guten Voraussetzungen, aber man wolle ihr noch eine Chance geben.
Also: Coachingeinsatz! Und zwar mit einem gewissen Zeitdruck, denn eine Veränderung sollte bald spürbar sein, sonst drohte eine Absage. Die erste Herausforderung war aus meiner Sicht, über das Problem, das sie offensichtlich in Kontakt mit den Mitarbeitern hatte, so zu sprechen, dass sie sich nicht verteidigen musste und alles abstritt. Das konnte sie gut und tat sie automatisch, wie ich aus oben erwähntem Konflikt wusste. So begann das Gespräch auch. Der Kreislauf: Bianca wird beschuldigt, sie wehrt es reflexartig ab, kämpft um ihre Haut, kam in Gang. Angesprochen auf konkrete Beispiele leugnete sie, soweit es ging, verstrickte sich in Widersprüche usw. Das wäre wohl der Augenblick, in dem ihr Gegenüber gewöhnlich wütend reagiert und das Spiel kann eskalieren. Also musste ich was anderes tun. Ich stellte die strittigen Punkte nicht als Vorwurf dar, sondern als interessantes, in manchen sogar komisches Problem dar, den man auf den Grund gehen könne: Also in der Art: „Ah, du hast auf deine Vorgesetzte in dieser Situation so reagiert – und das hatte dann die Auswirkung und landete bei der Chefin, spannend!“ Wenn man diese Auswirkungen verstehen könnte, dann würde sie noch besser sein als jetzt schon („Arbeiten kann sie ja“). Da konnte Bianca mitziehen und die Vorgänge auch interessant finden, sie konnte die Kommunikationsschwierigkeiten ein wenig wie ein Spiel sehen. Mir schien auch, dass sie durch ihre schnippische Art Selbstbewusstsein zeigen wollte, auf diese Weise Anerkennung suchte. Schließlich konnten wir uns auf eine Problemdefinition einigen (bestimmte Verhaltensweisen haben verblüffenderweise negative Auswirkungen) und anschließend darüber reden, ob sie etwas tun könne, um ihre Situation angenehmer und Erfolg versprechender zu gestalten. Durch ihren Schwenk aus der Verteidigungsposition konnte sie überraschend schnell interessante Lösungsansätze präsentieren. Sie skizzierte eine Verhaltensmöglichkeit gegenüber Kollegen und Vorgesetzten, die dem, was man sich in der Firma unter dem Verhalten eines Lehrlings vermutlich vorstellt, sehr nahe kam: Anerkennung finden durch zuverlässige Arbeit und höflichen Umgangston.
So weit so gut. Erfahrungsgemäß ist die Einsicht und ein positives Vorhaben in solchen Situationen mit eingeübten Verhaltensweisen aber noch nicht die halbe Miete. Die Umsetzung gelingt nur schwer. Also systemisch. Ich äußerte Zweifel, dass sie das kann, noch dazu in der kurzen Zeit. Ich unternahm also den Versuch, die an sich starke Persönlichkeit, die sich gewöhnlich gegen Vorschriften und Vorgesetzte wandte, anzuregen, gegen meinen Zweifel schlagend zu werden. Biancas Reaktion war interessant: es war als richtete sich innerlich und auch äußerlich auf, dann sagte sie: „Natürlich kann ich das.“ Wir sprachen dann noch genauer darüber, wie sie das merken würde, wenn sie sich anders verhält, wie es die anderen merken könnten usw. Die Wirkung war verblüffend. Als ich nach etwa einer Woche wieder im Geschäft nachfragte, hieß es, sie habe sich völlig verändert und man arbeite jetzt gerne mit ihr. Das hielt einige Wochen an. In den weiteren Gesprächen mit Bianca tat ich zweierlei: 1. ihr zu zeigen, dass mich ihr Fortkommen interessiert und dass ich ihre Veränderungen wertschätze. 2. Meiner Sorge Ausdruck verleihen, dass es bei solch plötzlichen guten Entwicklungen zu Rückschlägen kommen kann und man da sehr aufpassen muss (nach de Shazer).
Die Sache ging gut, die Zufriedenheit hielt auf beiden Seiten an.
Nach etwa einem Monat musste die Chefin aber wegen der Wirtschaftskrise absagen (sie konnte wegen einer Vorgabe der Zentrale keinen zusätzlichen Lehrling aufnehmen). Sie tat das mit schlechtem Gewissen, weil sie an Bianca nichts auszusetzen hatte. Wenige Tage später fand Bianca eine Bürostelle (die ich ihr vorher nie zugetraut hätte) und von Anfang an war man begeistert von ihr. Die Übernahme ist vereinbart.