Der Unterschied zwischen systemisch und nicht-systemisch in der Sozialarbeit
2002 – 2003
Von Arlt Astrid, Denk Alexandra, Floner Christoph, Haimer Martha, Jöbstl-Arbeiter Maria, Kadletz Barbara, Knotzer Marion, Litschauer Sabine, Polt Johannes, Rosskopf Cornelia, Scheidinger Thomas
Expertenrunde zum systemischen Arbeiten in der Sozialarbeit 2002 – 2003.
Ein Projekt des Studienganges für Sozialarbeit der FHS Campus Favoriten.
Projektbeschreibung
Die PU und ihre TeilnehmerInnen
PU ist eine Lehrveranstaltung an der FH für Sozialarbeit und man versteht darunter „praxisorientierter“ Unterricht in unserem Fall PU Projektentwicklung. Die Lehrveranstaltung umfasst 3 Stunden Theorie und 3 Stunden Praxis pro Woche. Ziel der PU ist es, dass StudentInnen ein Team bilden, die gemeinsam ein Projekt erarbeiten und auch die verschiedenen Facetten der Teamarbeit kennen lernen sollen.
Wir trafen uns das erste Mal an einem Dienstag und bekamen von Frau DSA Žužek in ihrer Funktion als externe Auftraggeberin ein Exposé als Diskussionsgrundlage zur Entwicklung eines Auftrages. Mehr oder weniger motiviert fingen wir an Informationen zu sammeln und wie es bei Leuten, die sich nicht gut bis gar nicht kennen, öfter vorkommt, ermittelten wir in die verschiedensten Richtungen und kamen auf keinen gemeinsamen Punkt. Wir waren also mit dem Thema anfangs etwas überfordert und benötigten doch einige PU – Einheiten, um auf eine gemeinsame Line zu kommen, wobei Prof. Dr. Milowiz uns hilfreich zur Seite stand und uns darauf aufmerksam machte, wenn wir uns in etwas nicht Zielführendes verbissen.
Wichtig war für uns auch zu wissen was „Systemisches Arbeiten“ eigentlich bedeutet und welche Prinzipien in diesem Arbeiten verfolgt werden. Prof. Dr. Milowiz half uns mit einem kurzen Vortrag zum Thema „systemisches Arbeiten“ auf die Sprünge.
Danach wurden weitere Ideen und Konzepte entwickelt, die wir der Auftraggeberin präsentieren wollten und am 15. November 2002 war es dann soweit, erster Versuch einer Konzeptpräsentation, doch die Methoden standen noch offen: Wir wollten SozialarbeiterInnen bezüglich Veränderungen in ihrer Arbeit befragen, die sich auf Grund des Arbeitens mit dem systemischen Ansatz ergeben haben.
Wir waren uns darüber einig etwas zu machen, das uns herausfordert und womit sich jeder von uns identifizieren konnte. Also, die grobe Struktur war fürs erste gegeben und wir machten noch gemeinsam mit der Auftraggeberin ein Brainstorming zum Thema: „Wie legen wir es methodisch an?“.
Am 17. Dezember 2002 war es dann endgültig soweit – wir präsentierten unser Projektkonzept. Wir wollten einen Film machen und diesen von einer Expertenrunde diskutieren lassen. Die ExpertInnen sollten aus 2 verschiedenen „Lagern“ kommen – aus dem „lebensweltorientierten“ und dem „systemischen“ – und wir wollten an Hand der Herangehensweisen der beiden Gruppen die Unterschiede zwischen systemischem und lebensweltorientiertem Ansatz herausfinden.
Frau Žužek – unsere Auftraggeberin – zeigte sich sehr angetan von unserer Idee, eine Veranstaltung mit ExpertInnen aus der Praxis zu organisieren und die Ergebnisse daraus anschließend für unseren Projektbericht verwerten zu können. Somit war unser Projektauftrag formuliert! Jetzt hieß es arbeiten, arbeiten, arbeiten, und die Zeit nicht aus den Augen verlieren.
Theoretischer Hintergrund
Der systemische Ansatz
Der systemischen Ansatz, so wie ich ihn hier kurz beschreiben werde, hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mein Beitrag repräsentiert viel mehr ein verkürzt dargestelltes Bild, das sich unsere PU-Gruppe in den letzten 2 Semestern über den systemischen Ansatz in der Sozialarbeit gemacht hat und mit dem wir in die Expertenrunde gegangen sind.
Was uns im letzten Jahr am deutlichsten bewusst wurde ist, dass wir nicht von „der Systemtheorie“ ausgehen können, sondern eher nur von einer Mehrzahl an „Systemtheorien“ wie es Hollstein-Brinkmann 1993 und Staub-Bernasconi 1995 (Hollstein-Brinkmann, H., Staub-Bernasconi, S. in Pantuček 1998, S. 73) sehr treffend formuliert haben.
Das Wort System stammt ursprünglich von dem griechischen Wort „synhistamein“, was „zusammenstehen“ bedeutet.
Im Österreichischen Wörterbuch (Österreichisches Wörterbuch 2000, S. 594) findet man unter dem Begriff „System“ die Bezeichnung „Ordnung“ oder „einheitlich geordnetes Ganzes“.
Für Lüssi ist systemisches Denken ein universales Erkenntnisprinzip:
„Es lässt sich nicht nur im naturwissenschaftlichen Bereich mit Erfolg anwenden, sondern ebenso sehr in den Human- und Sozialwissenschaften. somatische, psychische, soziale, ökonomische, rechtliche, politische und kulturelle Phänomene werden im systemtheoretischen Horizont besser verständlich als in der linearen Denkperspektive, ja vielfach werden sie überhaupt erst, wenn man sie als Systemstruktur bzw. Systemprozess begreift, erklärbar. Dabei handelt es sich um ganz gewöhnliche Erscheinungen, wie z.B. eine Hautallergie, eine depressive Krise, eine kriminelle Tat, eine Dollarschwäche, einen Ehescheidungsprozess, einen Bundesratsbeschluss, einen Filmerfolg.“ (Lüssi 1991, S. 58)
Luhmann beschreibt soziale Systeme wie folgt:
„Unter sozialem System soll ein Sinnzusammenhang von sozialen Handlungen verstanden werden, die aufeinander verweisen und sich von einer Umwelt nichtdazugehöriger Handlungen abgrenzen lassen.“ (Luhmann 1970, S. 115)
Genauer eingehen möchte ich auf den systemischen Ansatz von Milowiz (vgl. dazu: Milowiz 1998).
Dieses Buch war für unsere PU-Gruppe der Erst- und (vorläufige) Hauptzugang zu systemischer Sozialarbeit, stellt also auch unser derzeitiges, faktisches Wissen zu dieser Thematik dar:
Milowiz nennt zu Beginn seines Buches einige „Kernpunkte“ der systemischen Sichtweise, nämlich:
- „die umfassende Zusammenschau aller an Interaktionen beteiligten Geschehnisse
- die zirkuläre Selbstherstellung und Selbsterhaltung von Prozessen
- die Aufhebung der Trennung zwischen „unbeteiligten“ Beobachtern und Helfern einerseits und den beobachtenden bzw. „geholfenen“ Systemen andererseits
- die konstruktivistische Idee von beliebig vielen verschiedenen Möglichkeiten, die Welt zu sehen und zu beschreiben
- die bedingungslose Vermutung, dass jeder Mensch in jeder Situation nachvollziehbar und ehrenwert handelt und dass ggf. zum Verständnis der Handlung immer nur Informationen über die Situation des/der KlientIn fehlen“ (Milowiz 1998, S. 2).
Milowiz geht davon aus, dass jede einzelne Person seit ihrer Geburt in ein Netz von Beziehungen eingebunden ist (privat, beruflich,…..). Eine Beziehung führt zu einer nächsten Person, die wieder viele andere Beziehungen hat und so ergibt sich ein Netz von Beziehungen. In diesem Netz ist eine bewusste Erhaltung der Ordnung unmöglich, eine unbewusste allerdings sehr wohl.
Bei dem Systemischen Ansatz von Milowiz geht es nicht um gestörte Personen, sondern gestörte Beziehungen, die er „dysfunktionale Beziehungen“ nennt. Dabei werden die Energien nur auf die Erhaltung bzw. den Versuch der Veränderung der Beziehung verwendet, es findet viel Metakommunikation (Tonfall, Orte, Zeitpunkte,….) statt.
Symptome sind Teil der Metakommunikation und auch deren Wirkung ist wesentlich im Interaktionsspiel.
Für die SozialarbeiterInnen ist hier wichtig nicht danach zu fragen, ob jemand diese Symptome absichtlich, unabsichtlich oder gar nicht herbeigeführt hat. Wichtig sind Fragen wie: „Ist das schon öfter passiert?“ oder „Was ist die Reaktion der Umgebung?“
Die spontane Reaktion des Sozialarbeiters/der Sozialarbeiterin ist meist sehr ähnlich der Reaktion der Gesellschaft oder der Umgebung auf den Klienten- also eine Reaktion, die mithilft, das dysfunktionale System aufrecht zu erhalten.
Um das Problem des Klienten lösen zu können, ist es deshalb die Aufgabe von systemisch denkenden SozialarbeiterInnen, von diesem alten, dem Klienten bekannten, Reaktionsmuster Abstand zu nehmen.
Die SozialarbeiterInnen intervenieren in einem dysfunktionalen System und versuchen das System neu zu kalibrieren, d.h. das System in einen neuen stabilen Zustand zu bringen.
Das kann bedeuten, dass die KlientInnen lernen, sich selbst zu helfen oder man kann versuchen, die KlientInnen in soziale Hilfsnetze einzubinden, es kann aber auch bedeuten, dass der/die SozialarbeiterIn die Rolle des sozialen Netzes längerfristig übernimmt.
Eine andere Möglichkeit wäre auch, als SozialarbeiterIn den/die KlientIn mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten, die zur Unabhängigkeit führen soll.
Für Lüssi (1991) erscheinen drei Begriffe der Systemtheorie von besonderer Bedeutung:
Systemzugehörigkeit: der Mensch gehört einem Sozialsystem an, er spielt darin eine soziale Rolle
Systemfunktionalität: Der Sinn eines sozialen Systems drückt sich im jeweiligen Systemzweck aus und leitet sich aus kulturellen Werten und sozialen Normen ab. Stattfindende Interaktionen können dementsprechend entweder funktional oder dysfunktional im Bezug auf den Systemzweck sein.
Systembeziehung: ist die Beziehung zwischen Systemen auf gleicher Systemebene
Der Mensch ist nach Lüssi ein systembestimmter und systembedürftiger sozialer Rollenträger. Er steht in Beziehung zu anderen Menschen, die wie er eine Rolle innerhalb sozialsystemischer Zusammenhänge spielen. Soziale Problemlösung bedeutet eine Neu- und Umorganisation sozialer Zusammenhänge, das Ziel ist Systemfunktionalisierung.
Lebensweltorientierte Individualhilfe
Lebensweltorientierte Sozialarbeit gestaltet ihre Interventionen und Unterstützungsangebote mit Blick auf die konkrete Lebenswelt ihrer KlientInnen/Adressaten. Sie überfordert die KlientInnen nicht durch Interpretationen oder „Lösungskonzepte“, die vorgeben, unabhängig von den je konkreten Lebensbedingungen zu funktionieren und versucht, Ressourcen aus dem Umfeld der KlientInnen heranzuziehen und zu aktivieren. Die Lebenswelt der KlientInnen ist als Ort der alltäglichen Daseinsbewältigung und somit Schnittpunkt zwischen Mensch und Umwelt zu verstehen. Das Lebensfeld ist somit die Umgebung, in der sich ein/e KlientIn aufhält.
Ausgangspunkt für die Sozialarbeit ist es, die Sichtweise der KlientInnen zu akzeptieren und sie als – wenn auch oft „hilflose“ – ExpertInnen ihrer Lebenssituation zu sehen.
Formen der sozialarbeiterischen Individualhilfe
Die Aufgabe eines psychosozialen Beratungsangebotes wäre es, punktuelle Unterstützung bei der Entscheidungsfindung in (biografisch potentiellen wichtigen) Alltagsfragen zu geben, ohne die KlientInnen abhängig von der Hilfe zu machen, also ohne zu therapeutisieren, aber auch ohne sie allein zu lassen.
Als Rekonstruktionsarbeit wird die Vermittlung von Ressourcen und Arbeit mit – für die Betroffenen – wichtigen Personen und Institutionen – also die Arbeit im Feld – bezeichnet.
Nachgehende Arbeit beschäftigt sich mit den Personen, die ohne Unterstützung professioneller Sozialer Arbeit in völlige gesellschaftliche Isolation versinken würden und von „Verelendung“ bedroht oder schon betroffen sind.
Zusehends gewinnt die Form der Begleitenden Sozialarbeit an Gewicht. Sie ist nicht auf die Beseitigung von Notständen, sondern auf die Kanalisierung konsentriert (z.B: niederschwellige Drogenberatung oder Streetwork). Den Individuen werden Ausstiegsmöglichkeiten offengehalten aber nicht aufgedrängt.
Grundzüge der lebensweltorientierten Sozialarbeit
Individuenzentrierte Sozialarbeit orientiert sich an den gesunden Aspekten der KlientInnen, nicht an deren Defiziten.
Sozialarbeit ist an kein bestimmtes Setting gebunden. Der Schwerpunkt im Gespräch liegt nicht beim Hier und Jetzt des Gespräches, sondern außerhalb der Gesprächssituation, nämlich im Alltag der KlientInnen. Sozialarbeit hat keinen vorgegebenen Interpretationsrahmen für die Äußerungen der KlientInnen.
Die Sichtweise der KlientInnen wird zum Ausgangspunkt des Gespräches und der Kooperation. Der versuch der Klärung, ob diese Sichtweisen der Realität entsprechen, ist wirkungsvoller Bestandteil des Beratungsprozesses.
Sozialarbeit handelt im „Feld“ und übernimmt somit auch ein Stück weit Verantwortung.
Die Bewältigung des Alltags ist das zentrale Thema der Sozialarbeit, aber solange subjektiv Alltag herrscht, hat sozialarbeiterische Individualhilfe im Leben der Menschen nichts verloren. Ihr Auftritt kommt, wenn die Routine des Alltags versagt, wenn der Alltag zum „Problem“ wird, weil für die auftretenden Konflikte oder Aufgaben keine Problemlösungsroutinen mehr greifbar sind. Im sozialarbeiterischem Sinne beginnt ein „Problem“ dort, wo der Alltag aufhört, wo er für Betroffene prekär wird.
Die Rekonstruktion des Alltags kann als die zentrale Aufgabe der Sozialarbeit gesehen werden. Sozialarbeit arbeitet also per definitionem daran, sich selbst überflüssig zu machen.
Prekärer – manchmal sogar lebensbedrohender – Alltag ohne Aussicht auf kurzfristige Wiederherstellung seiner „Selbstverständlichkeit“ für die KlientInnen kann den Einbau der professionellen Individualhilfe in die Alltagstrukturen erforderlich machen. Die Rolle der SozialarbeiterInnen ist für die KlientInnen so zu sehen wie die eines großer Bruders oder einer großen Schwester, die verlässliche Unterstützung geben, wenn nötig, wo die Erreichbarkeit gesichert ist usw.
Die Sozialarbeit hat dabei immer die Möglichkeit des Rückzuges vor Augen – der, wenn für die KlientInnen nötig, allerdings auch verarbeitbar „inszeniert“ wird.
Die Problematik der lebensweltorientierten Expertengruppe
Die Einteilung und Benennung der zwei Gruppen in zum Einem systemische Sozialarbeiter und zum Anderen in lebensweltorientierte Sozialarbeiter wurde von uns getroffen. Die Expertengruppe, die keine systemische Zusatzausbildung hat, wussten mit dem Begriff „Lebensweltorientierte Sozialarbeit“ nichts anzufangen, da sie zuvor vom lebensweltorientierten Ansatz noch nichts gehört haben. Die Diskussion um die Bezeichnung der Gruppen wäre vermeidbar gewesen, wenn wir uns mehr damit befasst hätten, wie wir die Gruppen besser einteilen hätten können. Die Einteilung der Gruppen in Experten mit und ohne systemische Zusatzausbildung haben wir allerdings bewusst nicht gewählt, da wir nicht von vornherein eine wertende Haltung annehmen wollten. Im diesem Sinn bitten wir nachträglich um Verständnis für die von uns gewählte Einteilung.
Berufsbild – Identität der SozialarbeiterInnen
Wie schon im Absatz „Die Problematik der lebensweltorientierten Expertengruppe“ erwähnt, zeigte sich bei unserer Expertenveranstaltung, dass die eingeladenen ExpertInnen offensichtlich mit der genauen Formulierung ihres Berufsbildes und mit der Sicherung ihrer Identität Schwierigkeiten hatten. Selbst die begriffliche Klärung, der von Peter Pantuček bezeichneten „Lebensweltorientierten Sozialarbeit“, gab den ExpertInnen keine Orientierungshilfe, und auch keine identifizierbare Definition ihrer Arbeit als SozialarbeiterInnen.
Diese Schwierigkeit, das allgemeine Berufsbild der SozialarbeiterInnen als klare Einheit in Bezug auf ihre berufliche Tätigkeit nicht näher definieren zu können, löste Verwunderung bei den StudentInnen aus. Dazu kam, dass wir an Hand der Gästeliste erkennen konnten, welche vielfältigen Zusatzausbildungen im Bereich der Sozialarbeit seitens der Experten absolviert wurden, die eigentlich ihr berufliches Selbstbild bestärken mussten.
Grundsätzlich liegt die Frage nahe, ob das Berufsbild des/der Sozialarbeiters/in schon einmal klar definiert wurde, oder ob es aus heutiger Sicht bereits Tendenzen zu einem gesicherten Berufsbild gibt. Damit meine ich ein Berufsbild, dass von einem Großteil der SozialarbeiterInnen und von den StudentInnen der Sozialakademien und der FH für Sozialarbeit, als solches erkannt wird, und ihre berufliche Identität sichert.
Der Frage nachzugehen, warum es Schwierigkeiten bereitet, das Berufsbild der Sozialarbeit klar definieren zu können und welche Folgen dies für eine effektive Arbeit haben kann, wäre sicher eine interessante Aufgabe im Rahmen einer Diplomarbeit, würde aber den Rahmen dieses Berichtes sprengen.
Expertenrunde – Die Odysee erreicht ihren Höhepunkt
Die Gästeliste setzte sich zusammen aus 5 „lebensweltorientierten“ und 5 „systemisch orientierten“ SozialarbeiterInnen.
Vor dem Eintreffen unserer Gäste gingen wir ans Werk: Sessel und Bänke mussten gerückt werden, Kaffee-Tassen samt Untertassen und Kaffeelöffel wurden organisiert und poliert. Die Buffetgruppe – bestehend aus Martha Haimer – traf alle Vorbereitungen für das anschließende „gemütliche Beisammensein“ und auch die Technik (Videogeräte, Kameras, Diktaphone) wurde überprüft und bereit gestellt. Die BeobachterInnen der Kleingruppen spitzten ihre Bleistifte und positionierten ihre Schreibblöcke. Die Veranstaltung konnte beginnen.
Der Programmablauf und eine ungefähre Zeitangabe wurde vor dem Tag durch unsere Koordinatorinnen festgelegt und als eine ungefähre Richtlinie für die Dauer der Expertenrunde gedacht. Der Vorschlag für den Zeitplan konnte so nicht beibehalten werden und wurde spontan – den Wünschen unserer „ExpertInnen“ und den Gegebenheiten entsprechend – adaptiert. Einzelne Punkte konnten gekürzt, andere wiederum mussten in die Länge gezogen werden.
So zögerte vor allem die Problematik, dass die Gruppe der – von uns so bezeichneten – lebensweltorientierten SozialarbeiterInnen sich nichts unter diesem Begriff vorstellen konnten (Wie im Punkt „Die Problematik der lebensweltorientierten Expertengruppe“ beschrieben), die Vorstellungsrunde hinaus.
Bei der Besprechung des Falls in den Kleingruppen wurde den ExpertInnen ebenfalls mehr Zeit gelassen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, zu einem Abschluss ihrer Diskussion zu kommen. Dazu erhielten sie Anamnesebögen über die im Film vorgekommenen Jugendlichen und BetreuerInnen. Zur Orientierung für ihre Analyse legten wir Fragen, die uns interessierten, bei:
Wie würden Sie die Situation beschreiben?
Was meinen Sie, worum es hier geht?
Was würden Sie noch wissen wollen?
Was würden Sie jetzt tun?
Alles in Allem wurde der wissenschaftliche Teil – Diskussion, Schlussbesprechung, etc. – nach ca. 2 Stunden abgeschlossen und der informelle Teil – der Eröffnung des Buffets – fortgesetzt.
Zusammenfassend erhielt die Veranstaltung positive Resonanz seitens der ExpertInnen. Interessiert an den durch uns gewonnen Erkenntnissen hatte ein großer Teil der Teilnehmenden den Wunsch geäußert, unsere Projektarbeit zugesandt zu bekommen. Der von uns produzierte Film wurde ebenfalls gelobt.
BEOBACHTUNGEN
Ein Vergleich
Die Basis für unseren nachfolgenden Vergleich zwischen der Gruppe der SozialarbeiterInnen mit systemischem Ansatz und der Vergleichsgruppe bilden unsere Beobachtungen und Mitschriften der Kleingruppen während des Vormittages der Expertenrunde. Pro Kleingruppe gab es zwei StudentInnen, die das Vorgehen mitverfolgten. Zusätzlich haben wir Tonbandaufnahmen mitgeschnitten, die anschließend transkribiert wurden. Acht Personen von uns haben die Transkripte durchstudiert und versucht, Verschiedenheiten herauszuarbeiten. Daraufhin haben wir uns zusammengesetzt und einen Austausch vorgenommen. Hier nennen wir nun die Punkte, die wir als Gruppe für signifikant halten:
Verwendung/Nichtverwendung der Anamnesebögen
Der erste auffällige Unterschied den wir zwischen den beiden Gruppen feststellten, war die Verwendung bzw. Nichtverwendung der Anamnesebögen.
Während die Vergleichsgruppe die Bögen durchlas, bevor sie mit der Diskussion begann, hat die SystemikerInnengruppe die Anamnesebögen nicht beachtet, ja sogar als störend empfunden.
Schon ganz zu Beginn wird bei ihnen entschieden, die Bögen nicht durchzulesen:
„…mich belasten diese Zettel. Ich muss sie auch nicht haben dazu, … „
Dazu eine Stellungnahme eines Teilnehmers der Vergleichsgruppe:
„… diese Aggression kommt ja nur bedingt aus dem Kontext in der Gruppe heraus, das sind ja nur die Auslöser und Funken, die da springen und dann kann es sein, dass jemand explodiert, warum aber jemand explodiert, stammt aus einem anderen Kontext, den wir nur erahnen können auf Grund der Anamnesen von den Leuten und das zu verbinden…“
Wir finden, dass für die Vergleichsgruppe die Anamnesebögen eine Grundlage für ihre Analyse des Falls waren. Aus dem Zitat des/der DSA ist für uns auch ersichtlich, dass der Kontext im Vergleich zu den Anamnesen eine nur gemäßigte Rolle darstellt.
Wir haben versucht diese Herangehensweise in der Literatur wiederzufinden:
Laut Pantuček orientiert sich die Sozialarbeit an der Lebenswelt und am Lebensfeld der KlientInnen. Um den KlientInnen helfen zu können, muss man sein soziales Lebensfeld kennen.
„Unter dem Begriff Lebensfeld von KlientInnen wird die objektiv vorhandene soziale Welt verstanden, innerhalb derer sie ihren Alltag organisieren (müssen). Dazu gehören die für sie relevanten Personen und Institutionen, die materiellen Bedingungen ihrer Existenz, wie Einkommen, Wohnung usw., sowie die dort herrschenden immateriellen Bedingungen: Regeln, Denkmuster und Verhaltensstile, kulturelle Standards. (Pantuček 1998, S. 100)
Wie schon erwähnt, waren die Anamnesebögen für die SystemikerInnen von keiner Bedeutung, sie haben hingegen damit begonnen, „Systeme“ (Interaktionsstrukturen) zu definieren.
„Wir haben nicht etwas Neues entdeckt, sondern wir haben beschlossen, etwas, was wir wahrnehmen, in einer uns praktisch erscheinenden Weise zusammenzufassen und verwenden dafür den Namen ‚System’!“(Milowiz W.: 1998, S. 23)
In logischer Konsequenz hat sich die Gruppe der SozialarbeiterInnen mit systemischem Ansatz auch die sich aus dem Fallbeispiel ergebenden Systeme und Subsysteme auf dem Flipchart aufgezeichnet, um so die Beziehung der Systeme zueinander zu erklären.
Die SozialarbeiterInnen sprachen davon, dass durch das Erscheinen von Benjamin im dargestellten Fall das System der WG verändert wird und sich ein neues erst wieder bilden bzw. vereinbaren muss. Die SozialarbeiterInnen stellen sich die Frage, wie sich ein bestimmtes Verhalten auf die Gruppe auswirkt, die Reaktion auf eine Aktion im System scheint für die weitere Vorangehensweise der SystemikerInnen wichtig zu sein.
Das Zeitunglesen des Betreuers im Film wird z.B. als Versuch, sich vom System abzugrenzen, gesehen.
Bei Milowiz (vgl. Milowiz 1998, S. 12) findet man dazu eine Passage, wo von Neukalibrierung der Systeme gesprochen wird, die in unserem Fallbeispiel gerade stattfindet.
Positionierung der SozialarbeiterInnen
Weiters ist uns aufgefallen, das die beiden Gruppen unterschiedliche Positionen für
die Bearbeitung des von uns vorgegeben Falls eingenommen haben.
Aus der Vorgehensweise ist bei der SystemikerInnengruppe auffällig, dass sie, da sie den Auftrag nicht kennen, sich außerhalb des Systems des Fallbeispiels positioniert sehen:
„Die eine Frage stört mich, die letzte extrem. … Welche Sozialarbeiterischen Schritte würden die jetzt setzen? Da muss ich mir die Frage stellen, was mein Auftrag ist. … Ob ich jetzt Sozialpädagoge, Sozialarbeiter am AJF oder Sozialarbeiter am Jugendgerichtshof – komplett unterschiedliche Schritte müsste ich setzen.“
„Aber bei dem sind wir uns einig, dass viel nachgefragt werden muss,…“
Die Vergleichsgruppe hingegen versetzt sich in die Situation des Fallbeispiels hinein, sie übernimmt verschieden Rollen und agiert in ihr, es kommt auch zu Interpretationen und Hypothesen die dargestellten Klienten betreffend. Die Gruppenmitglieder denken sehr praktisch, es fließen in die Fallbearbeitung auch eigene Erfahrungen mit ein:
“ Ich als Jugendamt- Sozialarbeiter würde so umgehen, dass ich sage, dass das die Wohngemeinschaft lösen muss, für sich. … wenn ich in der Position vom Betreuer wäre, wäre für mich der Punkt zum Intervenieren, wie ich das nicht mehr zugelassen hätte, dort wo der …“
„…wenn ich in der Position vom Betreuer wäre…“
„…das heißt ich sag das jetzt aus meiner Tätigkeit heraus…“
„…sonst bekomme ich als Betreuer selbst eine ab…“
„…von meinem Wissen, meiner Rolle her, könnte ich ihm auch erklären, was er zu erwarten hat, wie es weitergeht…“
Ein paar Beispiele zur Interpretation:
„..ich könnte mir z.B. vorstellen, dass der eine oder andere schon Bewährungshilfe hat, so wie die agieren.“
„…das ist eine ganz arge Geschichte…“
„…der hat massive Geschichten laufen…“
Konsequenzen
Aus dem zuvor genannten (Einnehmen von Rollen bzw. Bewahren der Außenposition) ergibt sich in Folge eine weitere Unterschiedlichkeit. Unserer Meinung nach ist die Vergleichsgruppe schon mitten im Geschehen. Daraus ergibt sich, dass sie auch schon Überlegungen bezüglich drohenden Konsequenzen anstellt. Sie macht sich viel mehr Gedanken über Dinge wie z.B. ob Anzeige erstattet werden muss, ob Benjamin eine Gefängnisstrafe droht, etc.
In dem Punkt, dass die Rettung gerufen werden muss, waren sich aber doch beide Gruppen einig.
Die SystemikerInnengruppe, so wie wir finden, bleibt außerhalb des Geschehens bzw. nimmt keine Rolle ein und muss sich deshalb auch nicht mit solchen Fragestellungen beschäftigen.
Interpretation
Wie schon oben erwähnt (siehe Positionierung), tendiert die Vergleichsgruppe, unserer Ansicht nach zu Interpretationen. Bei der systemischen Arbeitsgruppe wird hingegen die Vorsicht vor Interpretationen thematisiert.
„Also, das könnte ich schon als positiv werten, das ist der Wunsch nach Kontakt und nach einer Beziehung. … Das ist natürlich die Frage, der, dem in das Essen gespuckt wird, wird das möglicherweise nicht so empfinden, also, ist das schon etwas, das nur in unseren Köpfen vorhanden ist. Also mir ist das in meiner Arbeit extrem wichtig, geht das in meinem Kopf vor und wenn es so ist, muss ich genau nachfragen: Hat das was mit dir/ihnen zu tun? Liege ich da falsch?…“ (Transkript, S. 14)
Die systemische Arbeitsgruppe sieht z.B. auch den Film als eine Falle, der zu Interpretationen einlädt und einen sehr schnell in ein Defizitdenken abgleiten lässt. Ein Gruppenmitglied sagte dann dazu:
„Systemisch heißt für mich, ich sehe etwas und das löst bei mir etwas aus und ich sage nicht die Situation ist so, sondern ich müsste eigentlich sagen, wenn ich es genau nehme, das was ich sehe löst bei mir aus: Trauer, Traurigkeit, Hilflosigkeit, all dieses. So müsste ich das formulieren und dann müsste ich nochmals nachfragen. Aber es stimmt, wie würden sie die Situation beschreiben?, würde ich sagen: bei mir kommt sie so an, ich erlebe, wenn ich das so sehe, so.“
„Um systemisch denken zu können ist es von enormer Bedeutsamkeit die Frage, ob jemand seine Symptome absichtlich, unabsichtlich oder überhaupt nicht herbeigeführt hat zu unterlassen! Wesentlich ist nur, welche Wirkung sie im Interaktionsspiel hat.“ (Milowiz 1998, S. 11)
Das genaue Nachfragen dient als Schutz vor willkürlichen Interpretationen.
Wir verstehen darin den Versuch der SystemikerInnen, objektiver zu sein, indem sie sich bewusst sind, welchen Einfluss sie auch als SozialarbeiterInnen auf einen Klienten durch eine Interpretation nehmen können.
„… dass wir die Wirklichkeit, in der wir leben, nicht einfach vorfinden und durch unsere Sinnesorgane abbilden, sondern dass wir sie buchstäblich mit Hilfe unseres Denkens und unserer Sinne selber erst erzeugen oder konstruieren. Eben auch die Probleme – und nicht zuletzt die Lösungen.“ (Watzlawick, P. nach Pfeifer-Schaupp, H.-U. in Pantuček 1998, S. 74)
Vorgehensweise in der Bearbeitung
Bei der Bearbeitung der von uns gestellten Fragen gibt es auch spezifische Unterschiede zwischen den beiden Arbeitsgruppen. Die Vergleichsgruppe hält sich relativ genau an die von den StudentInnen vorbereitete Fragenabfolge, die Punkte für die Präsentation werden am Schluss gemeinsam gesammelt. Die Beteiligten sind eher am raschen Vorwärtskommen interessiert, sie wollen sich bei den Fragen nicht verzetteln, es drängt immer jemand zum nächsten Punkt oder lenkt die Aufmerksamkeit wieder zur momentan gestellten Frage zurück.
Im Gegensatz dazu entscheiden sich die SystemikerInnen dafür, die Frage „Welche Schritte würden Sie nun setzen?“ mangels genauerem Wissen um den Auftrag nicht zu behandeln. Sie beschäftigen sich somit viel ausführlicher mit den anderen Fragen (siehe Kapitel 4.2. „Expertenrunde – Die Odysee erreicht ihren Höhepunkt“). Ein Gruppenmitglied beginnt spontan während des Gesprächs in der Kleingruppe den Fall auf dem Flipchart darzustellen.
Grenze
Eine weitere Auffälligkeit ist die vermehrte Verwendung des Begriffs „Grenze“, der bei der Diskussion der Vergleichsgruppe ziemliches Gewicht hat. Auch das Wort „Revier“ wird oft verwendet:
„mein Revier, dein Revier“
„…dass er sich abgrenzen muss, sonst würde man das gar nicht anders aushalten…“
Zu diesem Punkt können wir keine Erklärung finden.
Vorgesetzte
Nach unserer Meinung ist es der Vergleichsgruppe sehr wichtig, ihren Vorgesetzten von dem Vorfall zu erzählen. In der Literatur haben wir einen möglichen Grund für dieses Vorgehen gefunden, nämlich ein mögliches Gebundensein an Strukturen. Helen H. Perlmann schreibt in ihrem Aufsatz „Soziale Einzelfallhilfe als problemlösender Prozess“ dazu:
„Als Repräsentant der Dienststelle hat sich der Caseworker an die Struktur zu halten, die jene vorschreibt- klar festgelegte Verantwortlichkeiten und Aufgaben, bestimmte Leitideen und Verfahrensweisen.“ (Perlman, nach Pichler 2003)
Demgegenüber scheint das informieren der Vorgesetzen der SystemikerInnengruppe nicht so wichtig zu sein. Eine Variante dies zu deuten wäre das „Außenstehen“ bzw. der „Beobachterstatus“ (siehe Positionierung). Peter Lüssi (Lüssi, nach Pichler, 2003) schreibt dazu: „Der Sozialarbeiter ist Herr über sein Denken und Handeln. Er beansprucht die Freiheit gegenüber allen Beteiligten, das Problem nach eigenem Verstehen zu definieren und sein Vorgehen selbst zu bestimmen!“ (……)
Suche nach Positivem
In der Gruppe der SystemikerInnen wird versucht zu klären, was in der Wohngemeinschaft gut läuft. Das ist ein Unterschied, der uns im Gegensatz zur Vergleichsgruppe sehr aufgefallen ist, dass hier immer Positives und Ausnahmen bzw. Dinge, die schon funktionieren, gesucht werden.
„Gibt es Ausnahmen? Gibt es etwas Angenehmes? … Was läuft den gut in dieser Gruppe…“
Oder:
Wir haben den Eindruck, dass die SystemikerInnen aus Ereignissen das Positivere herausholen:
„es war eine irre Kraft da“
Situationen (z.B. Kuchen wird in den Mistkübel geschmissen, Betreuerin bringt einen neuen Mitbewohner herein) werden als positive Kraftimpulse bezeichnet. Es wird nach Dingen gesucht, die funktionieren, also Ressourcen:
„Zentral ist die Annahme, dass jedes System bereits über alle Ressourcen verfügt, die es zur Lösung seiner Probleme benötigt – es nutzt es nur derzeit nicht. Um die Ressourcen aufzufinden, braucht man sich nicht mit dem Problem zu beschäftigen, der Fokus liegt von vornherein auf der Konstruktion von Lösungen.“ (Schlippe/Schweitzer nach Hafen 2003)
Hier zwei Beispiele mit denen wir diese verschiedenartige Deutung von Situationen anschaulicher machen wollen. Dazu haben wir eine Gegenüberstellung der Kommentare der jeweiligen Gruppe zu zwei Szenen des Films vorgenommen:
Szene
Benjamin spuckt den gekauten Kuchen in den Teller von Christoph
SystemikerInnengruppe | Vergleichsgruppe |
„…Versuch das System zu durchbrechen…“ „…positiv werten, das ist der Wunsch nach Kontakt und nach Beziehung.“ „…diese Energie auch ein Grundbedürfnis, also Beziehung…“ | „…diesen Abfall hingespuckt auf den Teller..“ „…Grenzüberschreitung…“ „…Futterneid…“ „…zu wenig bekommen…“ „…immer der letzte gewesen…“ „…egal wie gestört die Jugendlichen sind, einen zerkauten Kuchen dem anderen hin zu spucken, das ist einfach zuviel, es ist klar, dann geht das ganze in die Luft, dass der mampft wie ein Blöder, das geht ja noch alles, aber…“ |
Szene
Viktoria schleckt den Kuchen ab und bietet diesen dem Betreuer Kurt mit den Worten: „da hast einen Zungenkuss von mir“ an. Kurt schmeißt das Kuchenstück wortlos weg. Daraufhin wirft Viktoria ein Glas auf den Boden.
SystemikerInnengruppe | Vergleichsgruppe |
„…sexuelle Provokation des Mädchens dem Betreuer gegenüber…“ „…versuchte sexuelle Provokation…“ „..kann ich diese Annäherung an den Betreuer durchaus als positiv deuten…“ „…ich könnte es sehen als Aufarbeitungs-versuch / Traumabewältigung….“ „…sie hat das Bedürfnis nach einer Beziehung und er lehnt ab. Das funktioniert von seiner Seite nicht…“ …das hat auch weh getan, wenn er aufsteht und es wegschmeißt…“ | „…Liebesbeweis kommentarlos in den Mistkübel schmeißt…“ „…ich nehme an, dass der Betreuer so reagiert, weil die Provokation von dem Mädel ständig kommt…“ „…eine mit Krampf versucht, die körperliche Nähe zu anderen zu suchen…“ „…dann hat sie das Glas zusammengehauen…“ „…er hat angefangen mit dem Kuchen…“ „…sie hat mit dieser Provokation angefangen…“ „…da muss man aber nicht aggressiv reagieren…“ |
Am Schluss unseres Vergleiches der Versuch einer Zusammenfassung und gleichzeitiger Verbindung mit einem Auszug von Heino Hollstein-Brinkmann (vgl. Hollstein-Brinkmann, H.: 2003), der unserer Meinung nach gut zu den von uns hervorgehobenen Unterschieden passt:
Was systemische Sozialarbeit auszeichnet
Ressourcenorientierung und Vertrauen in die Lösungskompetenz der Klienten/Nutzer (siehe „Suche nach Positivem“)
Klärung der Aufträge und Verantwortlichkeit auf beiden Seiten (siehe „Vorgehensweise bei der Bearbeitung“)
Wahrung der Außerperspektive im professionellen Handeln (siehe „Positionierung“)
Bescheidenheit im Werten und Urteilen (siehe „Interpretationen“) und
Multikausales und zirkuläres Denken (siehe „Verwendung der Anamnesebögen“)
Plenumsdiskussion
Im folgenden Abschnitt sind die Beobachtungen während der Plenumsdiskussion zusammengefasst. Hauptaugenmerk liegt dabei darauf, zusammenhängende Diskussionsströme aufzugreifen und zusammenzufassen. Es besteht kein Anspruch auf eine vollständige Kurzfassung aller Diskussionsinhalte oder aller für die Expertenrunde wesentlichen Inhalte. Als Quellen dienen eine Audioaufzeichnung, Beobachtungen und Mitschriften während der Diskussion.
Die ExpertInnen der systemischen Gruppe, die alle über eine Aus- oder Weiterbildung mit systemtheoretischer Fundierung verfügen, hatten eine gemeinsame Basis.
Die Vergleichsgruppe war eine in ihren Weiterbildungen verschiedenartigere Gruppe, die von uns zuerst mit dem Namen „lebensweltorientiert“ versehen wurde. Mittlerweile haben wir erkannt, dass diese Bezeichnung nicht passend ist, deswegen wird die Gruppe der „lebensweltorientierten“ Experten in diesem Bericht auch mit „Vergleichsgruppe“ bezeichnet. Auf Grund der damaligen Etikettierung zeigten sich bereits in der Vorstellungsrunde ExpertInnen der Vergleichsgruppe über diese Benennung überrascht und konnten damit nicht viel anfangen. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde dieses Problem nochmals aufgegriffen und festgestellt, dass es eigentlich in der Expertenrunde keinen Gegenpol zur systemischen Sozialarbeit gab, sondern nur unterschiedliche Zugänge zu Problemfällen.
Schon bei der Präsentation fiel auf, dass die Vergleichsgruppe gegenüber den SystemikerInnen ihr Hauptaugenmerk auf die Problemlage richtete, und nach eingehender Analyse der Fakten der Anamnesebögen konkrete Lösungsstrategien erarbeiteten.
Im Gegensatz dazu versuchten die SystemikerInnen, Interaktionsstrukturen und Wechselwirkungen zwischen dem Hauptakteur im Film, als Teil eines Systems, ebenso aller anderen Systembeteiligten vorerst zu analysieren.
In der Diskussion wurde auch dieser Umstand behandelt, wobei die zentrale Vermutung darin bestand, dass systemische Sozialarbeit als kopflastiger und weniger handlungsorientiert bezeichnet werden kann. Zentral hierfür kann man folgendes Zitat anführen: „Was ich aber schon festgestellt habe, ist, dass mir der Ansatz von den Lebensweltorientierten viel konkreter und handlungsorientierter, hingegen der der Systemiker, könnt‘ ich jetzt fast sagen, ein bisschen kopflastiger vorgekommen ist – bis die endlich einmal was angehen ist der vielleicht schon gestorben.“
Das Attribut „kopflastig“ hat sich dabei auch durchaus durchgesetzt, wobei an der These vom Mangel an Handlungsorientiertheit kritisiert wurde, dass in der konkreten Situation natürlich jede/r SozialarbeiterIn, egal von welcher Profession er/sie kommt, die dringend notwendigen Handlungen durchgeführt hätte, wie z.B. im Film, die ärztliche Hilfe geholt hätte.
Ein weiterer Teil der Diskussion bezog sich auf den Umgang mit den Anamnesebögen. Während die Vergleichsgruppe diese als hilfsreiche Grundlage für die Erarbeitung ihrer Lösungsstrategien verwendeten, empfanden die SystemikerInnen die Anamnesebögen als Hintergrundinformation, um sich keine vorgefasste Meinung vom Klienten zu machen, als störend. (Wie auch schon im vorhergehenden Kapitel „Ein Vergleich“ erwähnt.)
„Wir haben uns sehr schnell von dem Defizitmodell fangen lassen, haben dann aber gesagt ok – zentrale Frage der Systemiker: was funktioniert trotz allem in dem System“.
In der systemischen Sozialarbeit ist es wichtig, dass ein besonderes Augenmerk auf die funktionierenden Teile eines Systems gerichtet wird.
„Die haben ein Essen, die können miteinander Essen, sie sitzen auf einem Tisch beieinander, es gibt zumindest eine Gruppe, sie sitzen zumindest in einem Raum beieinander, und was für uns der wesentlichste Punkt war, es könnte so etwas wie ein Freiraum oder die Gestaltbarkeit eines Prozesses möglich sein.“ sind Aussagen der Plenumsdiskussion.
In der Diskussion wurde dieser Aspekt unter dem Titel „Ressourcenorientiertheit“ behandelt. Als dieser Sachverhalt zur Sprache kam, wehrte die Vergleichsgruppe den Vorwurf ab, defizitorientiert und weniger ressourcenorientiert zu arbeiten. Gleichzeitig wurde allerdings eingeräumt, dass in der Sozialarbeit an sich viel zu oft defizitorientiert gearbeitet wird. Ich denke mir, dass dies bereits bei der Institutionenstruktur deutlich wird. Es gibt Obdachlosenheime für Obdachlose, Schuldnerberatungsstellen für Schuldner, usw. Bereits in der Bezeichnung einer Institution steckt das vordergründige Defizit einer Person. Auch wenn man die Handlungsfelder der Sozialarbeit, in denen wir unterrichtet werden, betrachtet, dann fällt auf, dass sie sich durch unterschiedliche Problemlagen (sprich: Defizite) kategorisieren. Die Frage der SozialarbeiterIn ist meist: „Welches Problem haben Sie?“ und nicht „Wozu sind Sie fähig?“.
Im späteren Verlauf entfernte sich die Diskussion immer weiter vom Grundthema und verstrickte sich mehr und mehr in Fragen über das ExpertInnentum und die Sozialarbeit an sich, bis sich die Beteiligten schließlich auf ein Ende einigen konnten.
Als groben Gesamteindruck kann man sagen, dass die beiden Seiten versucht haben, sich in der Diskussion einander anzunähern. Die Gemeinsamkeiten wurden gesucht und die Unterschiede relativiert. Die hier erfolgte Annäherung hat mehrere Aspekte.
Zum Einen trifft sicherlich die Interpretation von unserem Berater Dr. Walter Milowiz zu, die besagt, dass Unterschiede oft sofort zu Wertungen führen. Wenn es verschiedene Herangehensweisen zur Sozialarbeit gibt, so stellt sich schnell die Frage welche besser ist. Da ist es natürlich leichter die Spannung zu vermeiden, und sich möglichst ähnlich erscheinen zu lassen.
Zum Anderen fehlte in dieser Expertenrunde, wie bereits erwähnt, der Gegenpol zur systemischen Sozialarbeit, was einen Diskurs zwischen zwei Positionen, die sich voneinander abgrenzen, sehr erschwert.
Bleibt nur noch mit den Worten eines Teilnehmers zu sagen „Hier steckt noch viel Potential drinnen“. Der Sozialarbeit kann es nur gut tun, wenn der Diskurs über die Herangehensweise an soziale Probleme fortgeführt wird. Sowohl für die TeilnehmerInnen, als auch für die ZuhörerInnen einer solchen Diskussionsrunde ist der Vergleich darüber, auf welche Art und Weise man soziale Probleme betrachten kann, eine Bereicherung. Man kann dabei voneinander lernen, oder auch sich klar darüber werden, welche Unterschiede es gibt.
Schlusswort
Wir wollten etwas Besonderes aus den Vorgaben, die wir bekommen hatten, machen, und wenn ich das Ergebnis betrachte und die Zeit noch einmal Revue passieren lasse, denke ich, ist es uns auch gelungen.
Mit allen Höhen und Tiefen, die Team- und Projektarbeit in sich birgt, haben wir umzugehen gelernt und uns der Herausforderung gestellt.
Wir hatten es uns zur Aufgabe gemacht, Ansätze der Sozialarbeit zu vergleichen, nämlich den „lebensweltorientierten“ Ansatz und den „systemischen“ Ansatz.
Dazu haben wir uns ExpertInnen aus der Praxis eingeladen, zugehört, beobachtet und unsere Schlüsse daraus gezogen.
So einfach wie wir dachten, war es dann doch nicht, denn in der Literatur, in der Theorie, Unterschiede aufzuzeigen ist leichter, als dieses in der Praxis zu tun, denn da ist Vieles nicht mehr so klar sichtbar. Dennoch haben wir es versucht, und ich denke, dass das, was wir DAS ERGEBNIS unserer PU nennen, sich auch sehen lassen kann.
Abschließend möchten wir all jenen gegenüber unseren Dank aussprechen, die uns bei der Realisierung unseres Projekts hilfreich zur Seite standen. Dazu gehört an vorderster Stelle unser Dank an die Studiengangsleitung für die Kostenübernahme und unseren Lehrbeauftragten Prof. Dr. Milowiz und DSA Žužek für die Anleitung unserer Arbeit. Ganz besonders möchten wir uns bei den ExpertInnen bedanken, dass sie sich mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung zur Verfügung gestellt und uns ihre Zeit geopfert haben. Und last but not least, herzlichen Dank für die vielen namenlosen HelferInnen, die uns an Punkten, an denen wir nicht mehr weiter wussten, hilfreich unter die Arme gegriffen haben.
Quellenverzeichnis
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